WINTER 1995/1996 S. 8-13 |
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Der disqualifizierte Mensch |
Ich möchte zunächst Folgendes klarstellen : Der Titel „Der disqualifizierte Mensch” bezieht sich sicher ebenso auf die Frau wie auf den Mann, doch möchte ich hier einige Nuancen setzen. Zwar beziehen sich die Attribute „qualifiziert, disqualifiziert” auf beide Geschlechter, doch hat die Arbeitswelt in der Praxis niemals aufgehört, ein von den Männern beherrschter Raum zu sein. So entfremdend die Frauenarbeit auch gewesen sein mag, so wurde sie in der Zweiten Industrieperiode (im Großen und Ganzen vom Ende des XIX. Jahrhunderts bis zu den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts) als Haushalts- oder Nebentätigkeit betrachtet und als sogenannte unproduktive Tätigkeit meistens schlecht oder gar überhaupt nicht bezahlt. Allmählich haben sich die Frauen der „männlichen” Arbeitsorganisation angeschlossen. Nur vor sehr kurzer Zeit, in den siebziger Jahren, hat mit den Frauenbewegungen ein Kampf für die Lohngleichheit begonnen, und dieser Kampf ist heute noch lange nicht gewonnen. Ganz im Gegenteil, mit der Erbitterung der Krise machen sich ständig Versuche breit, um „die Frau an den Kochtopf”, außerhalb des Produktionsbereiches, zurückzuschicken.
Dieser Artikel will die Vorherrschaft der Männerkultur der Zweiten Industrieperiode bezeugen. Diese Kultur beruhte auf einer Qualifikation, welche die (muskuläre eher als alles Andere) Arbeitskraft von Menschen ausdrückte, die im Rahmen eines sehr strukturierten Produktionsbereiches tätig wurden, und nicht auf den jeder Frau und jedem Mann - jedem Bürger eigenen Qualitäten. Man müsste sicherlich eingehender auf diese Frage zurückkommen, und ich wage es, zu hoffen, dass die Périphériques diese Gelegenheit bald ergreifen werden.
Im Artikel Der disqualifizierte Mensch in Nr. 1 der Périphériques habe ich versucht, zu zeigen, dass der Taylorismus, welcher die Zweite Industrieperiode beherrscht hat, die Fähigkeiten der Produzenten von ihrem Arbeitsplatze im Produktionsprozess aus veranschlagte. Ich zog daraus die Folgerung, dass die Entwicklung der Kriterien, welche die Vorqualifizierung für jeden Posten betreffen, allmählich einen qualitätslosen Menschen erzeugt hat. In der Folge hat die tayloristische Organisation eine beispiellose Entwicklung der Massenproduktion ermöglicht, die ihrerseits zum Massenkonsum führte. Beide haben allmählich die für dieses XX. Jahrhunderts sehr charakteristische Lebensart erzeugt, welche sich in allen Industrieländern derart schnell verallgemeinert hat, dass sie heutzutage alle Länder überdeckt. Eine „Mittelklasse” von Durchschnittsverbrauchern, die alle Gesellschaftsschichten vemischt, hat allmählich die Neigungen, das Verhalten und schließlich die Lebensweisen der ehemaligen Gesellschaftsklassen gleichgeschaltet. Ich möchte noch bemerken, dass sich der Ausdruck Mittelklasse hier nicht so sehr auf den von den Arbeitskräften besetzten Arbeitsplatz bezieht, als vielmehr auf das Verhalten, auf dieselbe Art und Weise zur selben Zeit am selben Ort eine vermasste Produktion zu verbrauchen, gleich ob es sich hierbei um materielle oder um „geistige” Güter handelt. Mit der Mittelklasse als Ausdruck der Massenproduktions- und -konsumgesellschaft wird der Mensch tatsächlich allein durch die Normen, die sich auf den Konsum, genauer auf das Konsumverhalten beziehen, qualifiziert. Dieses Konsumverhalten wird ganz einfach allmählich die Idee von Lebensart verdrängen.
Letztendlich bedeutet gut zu leben, konsumieren zu können. Der Mensch findet seine Identität in der Arbeit, welche er leistet, und in dem Produkt, welches er konsumiert, und so vergisst er, dass er ein menschliches Wesen ist und ein eigenes Schicksal (u.A. eine Zukunft) besitzt. Sein ganzes Leben lang werden sich seine Projekte, Ziele und Bedürfnisse um folgende sehr einfache Idee drehen : zu arbeiten, um so viel wie möglich, je mehr, desto besser, zu verbrauchen. Durch diese Weltanschauung, welche in den Augen der Mehrheit die Idee von Glück verkörpert, wird sich die Ideologie des american way of life weiterhin verbreiten. Doch wenn der Mensch seine Arbeit verliert, wird er sofort disqualifiziert und dazu verurteilt sein, schlecht zu verbrauchen. Der Ausdruck disqualifizierter Mensch wird somit einen qualitätslosen Menschen bezeichnen, der plötzlich ohne Arbeit ist. Die technologische Revolution bringt ständig eine Wiederinfragestellung der taylor'schen Ordnung mit sich, schafft es jedoch nicht, eine zufriedenstellende Alternative zum überholten Taylorismus durchzusetzen. Von Anfang an haben die Périphériques zu diesem Thema eine klare Stellung bezogen : Der Akteur (Autor seiner Akte) sollte den Interpreten (insbesondere den taylor'schen Menschen) ablösen. Offensichtlich scheint sich diese Entscheidung heute leider nicht zu stellen. Die Massenkonsumzwänge setzen sich weiterhin auf dem Markte durch und drängen dazu, ein unpersönliches, allein dem Erwerb der Massenprodukte zugewandtes Sozialkollektiv aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig bringen die immer schnelleren technologischen Fortschritte eine ständige Verringerung der Anzahl der für die Produktion notwendigen Arbeitskräfte mit sich. Diese doppelte Bewegung beschleunigt sich ständig.
Das sichtbarste Ergebnis dieser Widersprüche, die am Markte rütteln, ist die Tatsache, dass allenthalben Umstrukturierungsanlagen errichtet werden, um die Unternehmen immer konkurrenzfähiger zu machen. Als Beispiel verweise ich auf das re-engineering, ein Produktionsmodell, das „ein immer höheres Informatisierungs- und Automatisierungsniveau mit einem neuen Organisationsmodell, das eine maximale Geschmeidigkeit in der Personalpolitik ermöglicht (, kombiniert). (...) Dieses neue Organisationsmodell erlaubt es, das gleiche Produktionsvolumen mit der Hälfte des Kapitals und 40-80 % weniger Personal sicherzustellen.” (André Gorz : Sortir de la société salariale, Herausg. Transversales Sciences Cultures.)
Sicherlich führt das Aufkommen eines auf Qualität gerichteten Marktes manche dazu, zu denken, dass ein starker Wirtschaftsaufschwung stattfinden kann. Zweifellos. Mit dem Vorbehalt, dass die Idee „Qualität” sich mehr auf eine „technologische Qualität” der Produkte selbst bezieht, als auf den Erwerb durch die Frauen und Männer von eigenen Qualitäten (Wissen), die sie dazu führen, eine Nachfrage nach Produkten einer neuen Art zum Ausdruck zu bringen. Den Begriff Qualität sollte man eher auf Produkte anwenden, welche die Qualität der Männer und Frauen, für die sie bestimmt sind, nähren können. Ich bin davon überzeugt, dass die Entwicklung der Persönlichkeit die Entwicklung im Rahmen eines Marktes, der auf Qualität zielt, unterstützen könnte. Bevor ich ein wenig klarstelle, um was es sich bei der Persönlichkeit handelt, möchte ich einiges über den Hauptgrund der aktuellen sozialen Unruhe, die Industrieumstrukturierungen bemerken.
Diese lange Umstrukturierung hat unmittelbar ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit bewirkt und so im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte zu einer gefährlichen Lage geführt. Heute ist das Maß voll : Man muss dem Anstieg der Arbeitslosigkeit um jeden Preis Einhalt gebieten. Die Maßnahmen, welche der herrschende Liberalismus (zunächst in England und in den Vereinigten Staaten) ergriffen hat, zeigen, dass die allmähliche Preisgabe der Arbeitsorganisation, welche auf der Vollbeschäftigung beruht, die Teilzeitarbeit begünstigt hat :
Dieses Phänomen der „Verunsicherung” ganzer Bevölkerungsschichten lässt in den Industrieländern eine Unterklasse entstehen. Die Amerikaner nennen diese bereits under-class. Die under-class schließt im Großen und Ganzen alle durch die weltweite Verstrickung der Wirtschaft „disqualifizierten Menschen” ein. Diese Klasse stellt nunmehr eine enorme Bevölkerungsschicht dar :
Leute aller Bereiche, Wissenschaftler, Wirtschaftler, Forscher und viele andere versuchen allenthalben, sich auszudenken, wie man dieser Katastrophe entrinnen kann. Überlegungen und Vorschläge entstehen, die fruchtbare Forschungsfelder eröffnen (ich denke namentlich an André Gorz, an Jacques Robin mit der Zeitschrift Transversales, an Riccardo Petrella, Leiter der Lissabonner Gruppe, und an viele andere). Was mich betrifft, so möchte ich mich dieser Überlegung anschließen und jetzt einige Erwägungen zu einer Art von Problematik beginnen, die sich mit den örtlichen Realitäten im Einklang befindet.
Ich kann mich nur schwer davon überzeugen, dass die Umqualifizierung der menschlichen Reserven eine Lösung für die aktuellen Probleme darstellt. Man wird die Ausgrenzung mit Sicherheit nicht besiegen, indem man „die Verunsicherten” in ein Wirtschaftssystem eingliedert, das immer mehr Reichtum mit immer weniger Arbeitskräften produziert. Der Produktionskreislauf und das Wirtschaftssystem im Allgemeinen, einschließlich des Geldsystems, funktionieren immer schlechter, und dies ist mit Sicherheit nicht die Schuld der Opfer - derer, die daraus ausgeschlossen sind. Eine der ersten Lösungen, die sich aufdrängen, kurz gesagt ein erster Schritt, ist das Aufgeben einer Marktlogik, die nicht mehr dem heutigen Stand der Dinge entspricht. In der Tat stehen wir einem wirklichen Zivilisationswandel gegenüber, der die Betrachtungs-, Denk-, Handelns- und Daseinsweisen mit einbezieht. Man muss alles (das Verhalten zu allererst) ändern, weil sich ganz einfach alles geändert hat. Doch den Wandel kann man nicht durch Erlass erzwingen, keine Staatsentscheidung kann ihn jemals durchsetzen. Den Wandel kann man nur erfinden, selbst wenn es sich nur darum handelt, sich an Produktions- und Organisationsformen anzupassen, die aus in den Arbeitsbereich eingedrungenen Spitzentechnologien entstanden sind.
Bevor man selbst damit anfängt, eine Politik des Wandels zu erarbeiten, ist es unabdingbar, die Mentalitäten darauf vorzubereiten, zu folgen. Zweifellos, handelt es sich da um ein komplexes Unternehmen, das nicht wenige Probleme aufwirft, und diese Probleme wird man hier genau bezeichnen müssen.
Wir können jetzt etwas näher auf die Frage des Menschen ohne Qualität eingehen. Wir haben gesehen, dass der (eindimensionale) Mensch ohne Qualität aus der ganz auf Produktion und Massenkonsum ausgerichteten Taylor'schen Arbeitsorganisation hervorgegangen ist. Der Mensch verliert seine Qualität einfach, weil er durch den Arbeitsplatz (Facharbeiter, Vorarbeiter, Werkmeister, Mittlerer, Leitender oder Verwaltungsangestellter, Unternehmensleiter, Beamter, Freiberufler, Handwerker, usw.), welchen er besetzt, und durch sein Konsumverhalten qualifiziert ist. Wenn er eigene Qualitäten besitzt, so sind diese zweitrangig. Für diesen durch das Organisationssystem qualifizierten Menschen wird die Wortneuschöpfung Verunsicherung Disqualifizierung auf dem Arbeitsmarkt und folglich in der Gesellschaft bedeuten. Daraus ergibt sich folgendes Paradox : Mit der Einführung von immer moderneren Technologien bringen immer weniger nützliche Leute immer mehr nutzlose Leute hervor - zur Arbeitslosigkeit, zur Passivität oder zur unqualifizierten Teilzeitarbeit verdammte Individuen.
Unter diesen Umständen entpuppt sich das Weiterverfolgen einer ultra-liberalen Politik à la Thatcher als eine therapeutische Verbissenheit, die nicht nur grausam ist, sondern auch die schlimmsten Ausgrenzungen erzeugt. Wir dürfen nicht die Statistik des Britischen Sozialministeriums vom 15. Juli 94 vergessen : „Im Jahre 1979 lebten 5 Millionen Haushalte unter der Armutsschwelle (114 £ in der Woche, 270 DM) ; heute sind es beinahe 14 Millionen. In Großbritannien ist ein Kind von Dreien arm.”. Die anderen Lösungen, welche die Arbeitsneuaufteilung empfehlen, scheinen mir auch nicht viel ändern zu können. Ich halte daran fest : die Wiedereingliederung der Ausgegrenzten im gegenwärtigen Produktionssystem, selbst durch eine Arbeitszeitverkürzung, kann zwar kurzfristig etwas die Arbeitslosigkeit senken, aber auf die Dauer kann diese Maßnahme nur die Teilzeitarbeit verstärken, und somit wird sie auf jeden Fall die Verunsicherung steigern. Wenn man die Arbeitslosigkeit durch eine allgemeine Verunsicherung ersetzt, läuft man die Gefahr einer sehr gefährlichen Welt, in der man nicht leben kann. Man muss eine andere Logik annehmen, welche uns aus dem Rahmen der Fragestellungen „der Zweiten Industrieperiode” herausführen und somit ein Projekt entwerfen kann, das möglicher Weise Frauen und Männer in eine andere Produktions- und Lebensweise führen könnte. Hierzu muss man aber eine Anzahl vorgefasster, festsitzender Ideen über Bord werfen. Man muss diese aber auch noch aufspüren, ihnen Bestand geben und lernen, aus dem Rahmen zu treten. Betrachten wir dies einmal etwas genauer.
Das, was man als menschliche Reserve qualifiziert, bezeichnet einen der Produktionsfaktoren, genau wie Rohstoffe, finanzielle Reserven oder Produktionsmittel. Man vergisst, hinzuzufügen, dass der Ausdruck menschliche Reserve die lebendigen Frauen und Männer, welche die Güter produzieren, überdeckt. Indem „die Zweite Industrieperiode” den Menschen von den an seinem Arbeitsplatz zum Ausdruck kommenden Fähigkeiten aus qualifiziert, hat sie nur die Arbeitskraft in die Rechnung mit einbezogen, denn nur diese ist der Produktionsentwicklung nützlich. Demgegenüber garantiert der übermäßige Konsum die Gesundheit des Marktes selbst.
DAS GELD UMDENKEN In der Welt ist Glück eine neue Idee, Geld eine alte. Macht aus altem Geld neue Ideen. |
Das Gesetz eines auf der Massenproduktion beruhenden Marktes erfordert, dass das Produkt auf ein für alle Verbraucher gültiges Idealbild zurückgeführt wird. Hierfür darf man „das Produkt”, nicht „qualifizieren”, indem man seine wirklichen, gebrauchsbezogenen Qualitäten vorstellt, sondern indem man es als Symbolbild aufmacht, dessen Notwendigkeit sofort den Meisten vor die Augen schlägt. So wird sich die Idee, welche sich ein Jeder von der Qualität macht, von dem Bilde aus darstellen können, welches die Werbekampagnen von ihr abgeben. Vorgefasste, zu Idealbildern verformte Kriterien, die von sich aus die Qualität mit einbeziehen, werden sich so außerhalb der Eigenart und des Gebrauchswertes des Produktes selbst durchsetzen. Mit Hilfe der Werbung - und Gott weiß, wie kreativ sie hier gewesen ist - hat sich die Mittelklassenkultur allmählich Allen aufgedrängt. Indem sie vorgefasste Kriterien einführte, welche die Produkte idealisierten (indem sie aus ihnen z.B. „Statussymbole” machte), hat sie Geschmäcke und Gelüste vernormt und in Bedürfnisse an Massenprodukten oder „Spektakel” verformt. Daraus folgte u.A., dass der maximale Verkauf eines Produktes allein genügte, um es zu einem Qualitätsprodukt zu machen. Nur das Verhältnis zwischen Qualität und Preis wird der Idee einer „den Verkaufsziffern proportionellen Qualität” etwas Nuancen setzen, um auf dem Markte die Produktkategorien zu bezeichnen (bei Automobilen wird man z.B. zwischen Luxus- Mittelklasse- und Kleinwagen unterscheiden). Was die geistigen Werke betrifft, so wird die ständige Schwärmerei für Bestseller, Kino- Theater- oder Konzertbesucherzahl oder Fernseheinschaltquote tatsächlich „das Spektakel” als Endzweck jeden Ausdrucks durchsetzen. Die Spektakelgesellschaft hat sich buchstäblich durch folgenden Auftrag an die Autoren aufgebaut : „Erzählt Geschichten zur Unterhaltung des breitestmöglichen Publikums, denn es hat weder Mittel noch Zeit zum Denken. Für die Galerie oder zur Gewissensberuhigung wird man einige sogenannte « Qualitäts »-Werke erstehen lassen : Auch die Elite braucht ihr Spektakel, wir sind schließlich in einer Demokratie !” Unter diesem Blickwinkel drückt „das Spektakel” wohl etwas Anderes als eine „realistische” oder „fiktive” Darstellung von Lebensszenen aus ; das Spektakel bedeutet das Leben selbst, sein eigenes Leben, das man nicht mehr lebt, denn man zieht es vor, sein Scheinbild im Fernsehen, im Kino oder anderswo zu betrachten. Politik, menschlichen Beziehungen, künstlerische und soziale Ausdrucksformen, Reden, Debatten, Livesendungen im Fernsehen, die Erkenntnis selbst, alles wird zum Spektakel, und dieses Scheinbild des Lebens wird zum Idealobjekt, das den Konsum anstachelt. Bedeutet doch der Konsum das Leben ! Daraus folgt die Funktion des Marketing von sich aus : dafür zu sorgen, dass der Kunde von den Idealbildern fasziniert bleibt, und ihn dazu zu drängen, seine Befriedigung durch den alleinigen Besitz von zu „Lustobjekten”, d.h. zu Objekten „seiner Befriedigung” gewordenen Gegenständen zu suchen. Hinter dieser Schönfärberei verbirgt sich die graue Wirklichkeit : seine Entsagung.
Wenn man wirklich den Wandel will, dann wird man den Begriff des Marketing selbst verwandeln müssen. Er wird eine andere Idee für den Kommerz vorschlagen müssen. Definitionsgemäß bedeutet der Ausdruck Kommerz nicht von sich aus eine gemeine Tätigkeit, so wie die Literatur es manchmal darstellt. Der Kommerz sollte im Gegenteil eine edle Tätigkeit zum Ausdruck bringen. Kommerz bedeutet Austausch. Austausch hat aber nur Sinn, wenn verschiedene Dinge gegeneinander ausgetauscht werden. Austausch ist eine Verwandlung. Den Wandel kann man somit als Kommerz von Menschen betrachten, die Produkte, Ideen und Kenntnisse mit dem erklärten Willen austauschen, darauf hinzuarbeiten, dass diese Austauschtätigkeiten ihre Lage oder die der am Austausch teilnehmenden Gruppen oder Gemeinschaften verändern. Offensichtlich wird hier die Qualität nicht mehr durch das Bild des Produktes (Qualifikation des Produktes durch sein Idealbild) bestimmt, sondern sie bezieht sich auf eine Tätigkeit, auf den Frauen und Männern eigene Fähigkeiten (Qualitäten), welche sich im Austausch verwandeln. Dies könnte man menschliche Entwicklung nennen.
Im Rahmen eines Marketing, das nicht auf der Produktion von Idealbildern, sondern auf der Anregung zum bestmöglichen Gebrauch der für die Entwicklung eines Jeden notwendigen Produkte beruht, könnte die Werbung ganz andere Ziele haben. Statt das Produkt durch ein Idealbild zu qualifizieren, sollte die Werbung besser versuchen, „den Kunden” zur Erkenntnistätigkeit anzuleiten. Man könnte somit die Werbung als eine Tätigkeit definieren, die darin besteht, dem Publikum die Mittel in die Hand zu geben, um den Gebrauch des Produktes im Rahmen seines Lebens und in der Gemeinschaft kennen zu lernen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es die erste Folge der Erkenntnistätigkeit ist, die Begierde zu nähren. Dadurch wird die Entwicklung befreit und Möglichkeiten, unendlich viele Möglichkeiten werden erkennbar. Die neuen Begierden erweitern das Feld der Perspektiven, sie ermöglichen andere Aktivitätsfelder, und von daher können neue Funktionen, Rollen, Handwerke und Berufe entstehen. Kurz, wenn der Austausch sich fähig erweist, die Frauen und Männer zu verwandeln (Kommerz in seinem edlen Sinne), dann produziert er nicht nur Reichtum, sondern er kann auch Gelegenheiten entwickeln, um neue, andersartige Arbeitsplätze hervorzubringen.
Scharfe Konkurrenz und Wettbewerb beherrschen die Marktwirtschaft, die auf der Massenproduktion beruht. Ich kann auf diesen Punkt nicht besser eingehen, als indem ich mich auf die Arbeiten der Lissabonner Gruppe, die R. Petrella leitet, beziehe. In Limites à la compétitivité bemerken sie, „dass die Konkurrenz, « konkurrieren » Kräfte bezeichnet, die das gleiche Ziel verfolgen. Das Wort « Konkurrenz », aus dem lat. « cum currere », bedeutet gemeinsam das gleiche Ziel anstreben”. (Lissabonner Gruppe : Limites à la compétitivité S. 15. Herausg. La Découverte.)
Sicherlich bezeichnet heutzutage der Begriff Konkurrenz eine diesem Ursprung absolut entgegengesetzte Wirklichkeit. Konkurrenz bedeutet ganz einfach Ausschaltung des Konkurrenten :
Diese Konkurrenzideologie kommt von nun an die Gemeinschaft, die Individuen und den Staat zu teuer zu stehen, und mehr noch : Sie bewirkt den Verfall des Produktionssystems und des Marktes selbst, sie nährt die Krise :
Die Konkurrenz vervielfacht die Ungleichheiten, aber die einzigen anscheinend selbstverständlichen Lösungen beruhen auf der Idee, dass man immer mehr Konkurrenz braucht. Was man tatsächlich aufrechterhalten will, das ist das „Ausscheidungssystem” selbst, welches Massenproduktion und -konsum bestärkt. Dies kommt zweifellos daher, dass die Konkurrenz die beste Grundlage der Mittelklassenideologie darstellt.
Mir scheint es, dass die Lösung eher darin bestehen sollte, auf der Ebene der Wirtschafts- und Sozialpraxis die Ursprungsbedeutung des Begriffes Konkurrenz wiederzufinden, indem man sich z.B. die Frage stellt, wie man „gemeinsam das gleiche Ziel anstreben” kann. Kurz, zu versuchen dem Mittelklassengeist zu entkommen, indem man sich eine andere Entwicklung sucht als jene, zu der die Konkurrenzfähigkeit programmiert. Die aktuelle Produktionsweise, welche täglich mehr Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt disqualifiziert, erzeugt einen ebenso gewaltsamen wie perversen Ausgrenzungsmechanismus. Und wenn man unter diesen Bedingungen durch umstandsbedingte, von der ernsten Gesellschaftslage diktierte Maßnahmen aller Art jene, welche das System unweigerlich ausgrenzt, umqualifizieren will, so entpuppt sich dies als ein barbarisches und nutzloses Unternehmen.
Man tut so, als ob es keine andere Lösung gäbe, als dieses verseuchte System im Gleichgewicht zu halten. Ich glaube, dass dies das falsche Gleichgewicht ist, oder eher, dass man gar nicht weiß worum es sich handelt, wenn man vom Gleichgewicht spricht. Ilya Prigogine sagt uns, dass „Materie im Gleichgewicht blind ist, während sie fern vom Gleichgewicht Wechselbeziehungen erkennt. Man kommt zu dem paradoxen Schluss, dass Ungleichgewicht Struktur erzeugt.” (Le désordre créateur, Zeitschrift BIC Nr. 27 1995/1.) Es übersteigt die Möglichkeiten des Menschen, eine von Natur aus labile Welt im Gleichgewicht zu halten ; demgegenüber kann es den Frauen und Männern helfen, sich einen Gleichgewichtszustand in einer labilen Welt sicherzustellen, wenn sie „die Idee von Labilität in ihre Weltanschauung einbeziehen”. In einer labilen Welt das Gleichgewicht zu bewahren bedeutet, einen reellen Kampf aufzunehmen, es bedeutet ganz einfach, zu leben. Ich füge hinzu : „Genau dies macht das Leben lebenswert”. Nur dann werden Frauen und Männer dem Begriff Konkurrenz seine wirkliche Bedeutung geben können : „Das gleiche Ziel verfolgen, indem man gemeinsam sucht”. Ein ganzes Programm, ein Gesellschaftsprojekt.
Ich möchte jetzt die Persönlichkeit in ihrer Beziehung mit den Fähigkeiten betrachten. Ich habe zu Anfang dieses Artikels behauptet, dass der Mensch in der Zweiten Industrieperiode keine andere Qualität besaß, als die Qualifikation, welche ihm seine beruflichen Fähigkeiten zuschrieben. Und genau darum hat Marcuse von einem eindimensionalen Menschen sprechen können. Heutzutage ist die Lage eine ganz Andere. Die sehr rapide Entwicklung der Spitzentechnologien und des komplexen Nutzens, den sie mit sich bringen, verlangt von den Menschen, ebenso im Produktionsbereich, wie im Sozial- und Kulturbereich, eine hohe Anpassungsfähigkeit an die schnelle Berufsentwicklung. Gleichzeitig befinden sie sich in einer komplexen Welt, die Ungleichgewicht erzeugt. Für einen Jeden gilt es, seine Persönlichkeit (seine Entwicklungsfähigkeit, wie wir etwas weiter sehen werden) in dieser Labilität auszubilden. Doch was unterscheidet die Fähigkeiten von der Persönlichkeit ?
Die Fähigkeiten beziehen sich direkt auf die technischen und technologischen Kompetenzen und auf die Produktionsmethoden, die sich daraus ergeben, somit auf die Berufsausübung. Die Persönlichkeit bezeichnet das Verhalten der Frau und des Mannes angesichts der Zwänge, welche die Berufsentwicklung ihnen aufdrängt, ebenso auf der sozialen, wie auf der kulturellen Ebene.
... (Wir haben in den beiden vergangenen Nummern der Deutschen Ausgabe der Périphériques das know-who für die Persönlichkeit dem know-how für die Fähigkeiten gegenübergestellt. Ich glaube, mir von nun an diesen Übersetzungskniff sparen zu können, denn dem aufmerksamen Leser dürfte nicht entgangen sein, dass für uns das Wort Persönlichkeit nur dann einen Sinn hat, wenn es die Persönlichkeitsentwicklung mit einbezieht. Dies bringt allerdings den Nachteil mit sich, dass der frz. Originaltext an dieser Stelle für die Länge eines Absatzes praktisch unübersetzbar wird : Marc'O benutzt den Ausdruck savoir-être (diesen gab es vorher nicht) dort, wo ich von nun an ganz einfach Persönlichkeit sage, und drückt die verschiedenen Aspekte der neuen Persönlichkeit durch verschiedene Lesarten des Wörtchens être aus. Être bedeutet sein. Dieses sein beschränkt sich leider zu oft auf das simple (statische) da sein, existieren. Es kann (und sollte immer mehr) auch (dynamisch, in Entwicklung befindlich) leben bedeuten. Und, ob das manchen nun gefällt oder nicht, leben ist mehr als nur existieren. Anm. d. Übers.)
Es bleibt noch der aktuelle sozial-wirtschaftliche Bereich zu umschreiben, in dem der Wandel wirkt. Man muss gewissermaßen daran erinnern, wie man die Dinge auf „dem Operationsschauplatz” erfassen kann.
Wenn wir die Beziehung Produktion/Forschung/Ausbildung als „geordnetes zusammenhängendes Ganzes” begreifen, kann sie uns dabei helfen, den Schauplatz der menschlichen Tätigkeit ins Licht zu setzen. Der Ausdruck geordnetes zusammenhängendes Ganzes erinnert an die Idee, dass man Produktion, Forschung und Ausbildung nunmehr in ein und derselben Raum/Zeit begreifen muss. Dieser Standpunkt führt dazu, verschiedene Zusammenhänge in Beziehung zu setzen, und so kann man die Problematiken der Arbeitsorganisation nicht nur im Bereich ihrer Produktions- Konsum- Markt- und Kulturfunktion erfassen, sondern vor Allem auch ihre Entwicklung berücksichtigen. Dies bedeutet die Zukunft der Frau und des Mannes im Unternehmen und auf dem Markt : Sie werden nicht mehr einfach als „menschliche Reserven” abgetan.
Herr K. stellte folgende Fragen :
(Bertolt Brecht : Almanachgeschichten) Dies ist eine „Rück-Übersetzung”. Der deutsche Originaltext stand mir hier leider nicht zur Verfügung. (Anm. d. Übers.) |
Wenn man von diesem Standpunkt aus die Produktions- Forschungs- und Ausbildungstätigkeit als unzertrennliches Ganzes betrachtet, begünstigt man auf jeder Etappe eine Arbeitsorganisation, die mit der beschleunigten Entwicklung der Produktionsweisen in Verbindung steht. Ein Beispiel : Die schnelle Entwicklung der Berufe verpflichtet die Produzenten dazu, Lehrmethoden zu finden, die sich schnell an die neuen Forderungen der Produktion anpassen. Die Forschung muss somit auch die Ausbildung der Persönlichkeit und der Persönlichkeitsentwicklungsfähigkeit in ihre Arbeit einbeziehen, im Einklang mit der rapiden Berufsentwicklung. Die menschlichen Kompetenzen der Individuen und der Gruppe, die Interaktionsfähigkeiten stellen sich so als der Motor der Entwicklung selbst dar. Somit taucht eine Gewissheit auf : keine Wirtschaftsentwicklung ohne gleichzeitige menschliche Entwicklung, die sie sicherstellen kann. Von daher wird der Ausdruck „menschliche Reserve”, der sich in der Zweiten Industrieperiode auf „die Arbeitskraft” bezog, nunmehr die Geisteskraft bezeichnen. Daraus folgt u.A., dass sich die Entwicklung zu allererst auf das Individuum (Tätigkeit) und die Gruppe (Interaktivität) als Autoren und Akteure stützen muss, und nicht mehr als Interpreten der Wirtschaftsentwicklung. Unter diesem Gesichtspunkt wird es dem Wirtschaftsaufschwung nur Schaden bringen können, wenn man die Entwicklung der Fähigkeiten des Mannes, der Frau und des Kindes vernachlässigt. Um in der neuen Welt, die Gestalt annimmt, voranzukommen und eine Zukunft zu gewinnen, müssen Frau, Mann und Kind nunmehr Lebensziele finden, und diese Lebensziele beziehen direkt und gleichzeitig die drei Ausdrucksebenen der Produktion, Forschung und Ausbildung ein.
Doch es ist mit Sicherheit nicht Sache des Staates, der Institutionen, nicht Sache der politischen Ideologen und Führer, und auch nicht Sache der Professoren und Spezialisten in Human- oder anderen Wissenschaften, diese Lebensziele vorzuschlagen. Es ist die Angelegenheit der Bürger selbst, Jedes mit Allen. Es handelt sich da sicherlich um ein Unternehmen, das in jeder Beziehung ebenso das Politische, wie die Politik betrifft. Nichtsdestoweniger ist es Aufgabe des Staates und der Institutionen, Räume, Orte und Mittel zur Verfügung zu stellen, damit die Bürger jede Möglichkeit haben, diese Lebensziele zu erarbeiten. Ebenso ist es Sache der Professoren, mit ihren Studenten gemeinsam an der Zukunft zu arbeiten, indem sie mit der aktiven (produktiven) Welt eine Tätigkeit beginnen, welche die Einen und die Anderen ganz und gar einbezieht.
Zum Abschluss möchte ich noch zu Bedacht geben, dass sich meiner Meinung nach die Einstellung, die Beziehung Produktion/Forschung/Ausbildung als unzertrennliches „geordnetes zusammenhängendes Ganzes” zu betrachten, als eine gute Möglichkeit erweist, um konkret die Probleme der Arbeit, der Arbeitsorganisation, der Arbeitslosigkeit, der Ausgrenzung und der Verunsicherung anzugehen.
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Vorspiel einer Philosophie in Akten für aufrechte Philosophen |
Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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« un niveau de plus en plus élevé d'informatisation et de robotisation avec un nouveau modèle d'organisation permettant le maximum de souplesse dans la gestion des effectifs. (...) Ce nouveau modèle d'organisation permet d'assurer un même volume de production avec moitié moins de capital et 40 à 80 % de salariés en moins. »
« Le noyau stable des „permanents” (plein emploi) n'a cessé de se réduire et la proportion des personnels temporaires, précaires et à temps partiel d'augmenter. En Grande-Bretagne, le nombre des emplois à plein temps n'a cessé de diminuer depuis 1979. Actuellement 90 % des emplois créés sind précaires, à temps et à salaire partiels (contre 65 % durant les années 1980). Ces emplois „hors-normes” représentent 28 % de l'emploi total. Les mêmes proportions se retrouvent aux États-Unis. Les 500 plus grandes firmes américaines n'emploient que 10 % de salariés permanents et à temps plein. La substitution aux „permanents” de personnels externes, à temps et à salaire réduits est si rapide que les „contingent jobs” (emplois précaires, instables) représenteront plus que la moitié du total des emplois américains avant dix ans »
« Le total des chômeurs, de salariés à temps partiel, des personnes dont le salaire est inférieur au niveau de pauvreté (les „working poor” qui représentent 18 % des actifs américains) et des personnes qui, malgré leur niveau de formation trouvent que du travail non qualifié (je souligne), ce total représente actuellement 40 % de la population active aux États-Unis et en Grande-Bretagne, entre 30 et 40 % dans la plupart des pays de l'Union Européenne ».
« La concurrence, de „concurrencer”, désigne des forces poursuivant le même but. De son coté, le mot de „compétition”, du latin „cum petere”, veut dire chercher ensemble ».
« La logique de la compétitivité cherche à abaisser le degré de diversité du système en éliminant ceux qui sont incapables de résister aux forces dominantes et d'affronter plus forts qu'eux. En ce sens, elle contribue à l'expansion du phénomène de l'exclusion sociale : les personnes, les entreprises, les villes et les nations non concurrentielles sont laissées pour compte et éliminées de la course. Ce n'est pas acceptable sur le plan moral et ce n'est guère efficace sur celui de l'économie. Plus un système s'appauvrit, plus il perd la capacité de se régénérer. »
« L'idéologie de la compétitivité - comme toutes les idéologies d'ailleurs - empêche de voir les choses telles qu'elles sont. A ce titre, elle conduit inévitablement à l'inefficacité. La majorité des exclusions qui découlent d'un mauvais fonctionnement du marché ne fait aucun sens. »
« À l'équilibre, la matière est aveugle, tandis que loin de l'équilibre, elle saisit des corrélations, elle voit. On aboutit à cette conclusion paradoxale qui veut que le non-équilibre est source de structure. »
« L'expression savoir-être engage les deux mots „savoir” et „être”. Mais le terme „être” ne va pas de soi, il a de nombreux sens. En la circonstance, il est très important de préciser dans quel sens on l'entend. Je distinguerai un premier sens se rapportant au substantif être (comme dans „un être humain”, par exemple) le second concernant le verbe „être”. Pour le verbe „être”, les anglais disent „to be” au mot à mot : „à être”. Ainsi, par exemple la fameuse question „to be or not to be” peut exprimer deux sens. Si l'on se réfère au substantif, la question de Shakespeare prendra à peu près la signification suivante : Être un sujet (référence à un étant) ou ne pas être ce sujet (cet étant-là). La deuxième interprétation s'articule à travers „le verbe être”. Au mot à mot de l'énoncé anglais, elle prend alors cette signification : „à être ou à ne pas être”, ce qui signifie ni plus ni moins : „devenir ou ne pas devenir”. C'est cette acception (le devenir dans l'être) que je retiens quand j'évoque le „savoir-être”. »