WINTER 1995/1996 S. 31-32 |
Grenzen des Wettbewerbs, oder die Pflicht zur Empörung |
9 Stunden Klick |
Die Produktionsweise à la Taylor mag schon überholt, unangepasst, unmodern, beendet, veraltet sein. Der moderne aktive Mensch ist es sich schuldig, polyvalent, erfinderisch, intelligent, schöpferisch und initiativenfreudig zu sein. Somit ist mein folgendes Erlebnis wohl eines der letzten seiner Art, und dadurch erhält mein Zeugnis nur um so mehr Wert.
4h50 früh. Wir beschreiten zu zweit einen Durchgang in einem vielbenutzten Vorortbahnhof im Norden von Paris. Mein Vorgesetzter schreitet logischer Weise voran. An den Sperren am Bahnhofseingang angekommen erklärt er mir in ein paar Worten meine Funktion, ausgerüstet mit einem pflichtgemäß in Viertelstunden aufgeteilten Stundenblatt, mit einem mit dem Wappen der Gesellschaft, für die ich arbeite, geschmückten Kugelschreiber und mit einem Zähler, einem kleinen Metallgegenstand, welcher in der hohlen Hand Platz findet und einen sehr praktischen Ring besitzt, worin man den Mittelfinger stecken kann, während der Zeigefinger die Rolle hat, auf einen Druckknopf -Klick- zu drücken, welcher sich auf der Spitze besagten Gegenstandes befindet. Meine Aufgabe wäre es somit, jedesmal, wenn eine Person die Sperre durchschreitet, meinen rechten Zeigefinger -Klick- in Bewegung zu setzen und alle Viertelstunden die vom Zähler angezeigte Zahl auf das Stundenblatt in das entsprechende Feld zu übertragen.
Mit diesen guten Worten verlässt mich mein Vorgesetzter, nicht ohne mir viel Glück (?) zu wünschen, und lässt mich mit meinem Schicksal allein. Es ist 4h55, ich habe noch 5 Minuten Zeit, was ich ausnutze, um mir die bequemstmögliche Stellung zu finden.
„Eine Studie des DGB sagt in zehn Jahren eine Aufsplitterung der aktiven Bevölkerung in drei Kategorien voraus : 25 % ständige Angestellte unter dem Schutz von Tarifverträgen, 25 % Rand- und Kurzzeitarbeiter, 50 % Menschen am Rande der Gesellschaft, Arbeitslose und Halbarbeitslose.” (zitiert von Jacques ROBIN : Quand le travail quitte la société post-industrielle 1, GRIT, 1993).
|
||
5h00. Die Tore öffnen sich, die Anwohner beginnen, herbeizuströmen. Meine erste Kundin ist eine Dame unbestimmten Alters, die schläfrig aussieht. Sie misst mich mit einem misstrauischen Blick ab, zweifellos vom Schriftzug SNCF verunsichert, welcher sich auf meiner weißen Amtsjacke befindet. Endlich entschließt sie sich und steckt ihre Fahrkarte in den Schlitz. Das Drehkreuz dreht sich, ich klicke. Ein paar Augenblicke später kommen zwei junge Blacks, springen über die Sperre und verfolgen friedlich ihren Weg. Sieh an, ich mache ihnen also nicht so sehr Angst... Klick-Klick, wie dem auch sei. Noch einige Sekunden, und ungefähr zehn Personen treten in die Bahnhofshalle. Mein rechter Zeigefinger wird tätig.
5h15. Zeit für das erste Ablesen : 137 Personen sind vor mir vorbeimarschiert. Ich notiere es sorgfältig und fahre ohne andere Stimmung mit meinem Zählen fort.
5h19. Der Besentechniker und die Wischtuchbeauftragte tuscheln miteinander und beobachten mich heimlich. Ich habe gerade noch Zeit, ihnen mit einem komplizenhaften Lächeln zuzunicken, bevor ich mich wieder auf die Drehkreuzreihe konzentriere, welcher sich ungefähr zwanzig Personen nähern. Klick-Klick-Klick-Klick-Klick... usw.
5h30. Zweites Ablesen : 312 Kunden treten im Moment dem Morgengrauen gegenüber. Mein Fingerdruck ist sehr sicher geworden.
6h15. Draußen ist es Tag. Das Personal hat sich an meine Gegenwart gewöhnt. Man beachtet mich nicht mehr. Ich gehöre von nun an zur Raumausstattung. Der Fahrgaststrom ist regelmäßig geworden, meine Dauergeschwindigkeit stabilisiert sich um die 300, 350 Personen in der Viertelstunde. Ich beginne, mich zu langweilen.
6h45. Ich klicke im Dauermarsch, der Zähler zeigt 1955 Personen an, somit 1955 Fingerdrücke. Ein Mädchen lächelt mir zu. Weiß sie, dass sie für mich nur einen 1956. Fingerdruck bedeutet ?
7h30. Ich denke an meine Kameraden, die auf den Bahnsteigen sitzen und die Züge zählen. Bei der Idee, dass diese Tätigkeit traditionsgemäß den Kühen zufällt, ergreift mich ein kleines stilles Lächeln, was mir den hasserfüllten Blick eines älteren Mannes einbringt, welcher sicher glaubt, dass ich mich über ihn lustig mache.
7h45 Klick.
8h00 Klick. Ich überrasche mich dabei, daran zu denken, dass von meinem ganzen Körper nur mein rechter Zeigefinger und meine beiden Augen für die SNCF arbeiten. Der ganze Rest ist Nebensache. Am Ende könnte ich sogar ein Auge zumachen, das Ergebnis wäre wahrscheinlich dasselbe. Ich mache den Versuch mit dem linken Auge : Das funktioniert.
9h02. Die Schwelle des 5000. Klick wird von einer schwangeren jungen Frau von nordafrikanischer Hautfarbe überschritten. Ich möchte sie im Namen der SNCF beglückwünschen, ihr einen Preis, eine Gratis-Fünf-Zonen-Monatskarte, was weiß ich überreichen... Ich begnüge mich damit, sie mit einem breiten Lächeln zu bedenken, worauf sie nicht antwortet. Es ist absurd.
9h30 Mein Vorgesetzter erlaubt mir 10 Minuten Kaffeepause, während derer er für mich klickt. Auf meine Bitte, von einem meiner Kuh-Kameraden abgelöst zu werden, antwortet er sanft, dass die Listen grundsätzlich festgelegt sind, aber dass er mal sehen wird, was er machen kann. Sein schmerzerfüllter Gesichtsausdruck sagt mir, dass ihm meine Bitte wohl nicht sehr gelegen kam. Ich werde ihm wahrscheinlich Arbeit machen, wenn er seine Listen umbauen muss. Währenddessen klicke ich weiter.
10h00. Man hat mich sicher vergessen. Ich klicke weiter, das dreht sich um die 6000. Wenn ich daran denke, dass es Leute gibt, die dazu bereit wären, das jahraus, jahrein für eine Altersversicherung, ein Auto mit drei Türen und mehr oder weniger das SMIC zu machen !
10h08. Ein von meinem SNCF-Aufkleber getäuschter Vierzigjähriger beklagt sich lautstark darüber, dass seine Fahrkarte nicht funktioniert, obwohl sie in Ordnung ist (er hält sie mir unter die Nase). Ich sage ihm, dass er doch über die Sperre springen kann. Er antwortet mir beleidigt, dass er nicht kann, dass er Rheuma hat. Auf meinen liebenswerten Vorschlag hin, ihn zu stützen, bleibt ihm fast die Spucke weg, und er befiehlt mir, meinen Vorgesetzten zu rufen. Sicher wird er mich denunzieren, behaupten, dass ich zum Schwarzfahren anstifte, meinen Kopf fordern, was weiß ich...
11h00 Klick.
11h30 Klick.
12h00 Klick-Klick-Klick-Klick-...
12h30. Ich klicke wie ein Irrer.
13h00. Es wird ruhiger... Die Leute essen zu Mittag, ruhen sich aus. Ich hätte interessante Bemerkungen über die Anzahl der Schwarzfahrer (ungefähr ein Kunde von 10), über Tiere und kleine Kinder (müssen sie eine Fahrkarte lösen ?), und über die Vielfalt des Materials, das die Vorortbahnhöfe im Norden von Paris durchquert (2 Fahrräder, 1 Leiter und 15 Farbkübel, 1 Kontrabass gefolgt von verschiedenen Musikinstrumenten, und ein ganzes Bündel von Anglerartikeln) zu formulieren. Doch auf meinem Blatt ist hierfür kein Feld vorgesehen. Man will, dass ich klicke, Punkt, Ende der Zeile. Das kommt in die Akten.
13h45. Übrigens weiß ich noch immer nicht, an welcher Art von Erhebung ich mitarbeiten soll. Rückblickend verdrießt mich der Gedanke, dass sich diese Frage mir erst nach neun Stunden Arbeit stellt. Hätte ich also die Seele eines beschränkten Exekutanten ? In einer Viertelstunde ist mein Tagwerk beendet, ich könnte darüber beim Essen nachdenken. Klick.
14h00. Ich gebe weiße Weste, Stundenblatt, Zähler und Kugelschreiber ab, unterschreibe im Feld der Liste, wo mein Name steht (ich bin ein Feld) und begebe mich zum Ausgang. Zehn Meter weiter drehe ich mich um, gehe zurück zu meinem Vorgesetzten und stelle ihm die Frage, in welchen Rahmen sich meine „Arbeit” (sic !) einschreibt. Er scheint von meiner Frage überrascht. Ich sage es genauer : „Handelt es sich um eine statistische Erhebung, wurde sie von der RATP/SNCF oder vom INSEE veranlasst, betrifft sie nur Paris und Umgebung oder auch das Hinterland, wird sie zu Dienstverbesserungen führen ?” Mein Vorgesetzter zieht die Augenbrauen hoch, denkt einige Augenblicke lang nach und antwortet mit einem ausweichenden „jaja”.
14h05. Ohne weiter nachzubohren durchschreite ich das Bahnhofstor. Ich kneife die Augen zu, denn die Sonne scheint. Ich sage mir, dass ich noch Zeit habe, in der Uni vor meinem Industrieökonomiekurs ein Sandwich zu essen. Von Weitem sehe ich den Bus kommen. Ich muss mich sputen.
Anfang dieses Artikels | |
Inhaltsverzeichnis | |
Grenzen des Wettbewerbs, oder die Pflicht zur Empörung | |
Die Weisen lieben Ignoranz |
Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
Powered by Debian GNU-Linux 2.4.18