Les périphériques vous parlent Nr. 4
WINTER 1995/1996
S. 26-30
deutsch
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Grenzen des Wettbewerbs, oder die Pflicht zur Empörung

Gespräch mit Riccardo Petrella

Die zügellose weltweite Wirtschaftsverstrickung ist dabei, sich auf Kosten eines Anwachsens der materiellen und kulturellen Armut eines Teiles der Menschheit aufzubauen. Die Wettbewerbsfähigkeit macht sich als einziger Maßstab des Wohlstandes breit. Wird sich gegenüber dieser Lage nicht die Empörung im Weltmaßstab durch die Erfindung eines neuen Weltsozialvertrages ausdrücken ?

Les périphériques : Können Sie uns sagen, welches Ihre Verantwortungsstellung in der EG-Struktur ist und uns die Lissabonner Gruppe, ihre Ziele und ihre Arbeit vorstellen ?

Riccardo Petrella : Fünfzehn Jahre lang war ich Leiter des FAST-Programmes für die EG. Dieses hatte den Auftrag, die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft und besonders alle kurz- und langfristigen Folgen der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung auf der Wirtschafts- und Sozialebene zu erforschen. Auf dieser Grundlage sollten wir den europäischen Autoritäten Elemente für die Auswahl der Prioritäten der europäischen Wissenschafts- und Technologiepolitik in die Hand geben. Dieses sehr schöne Abenteuer hat letztes Jahr im September geendet. Es war ein schönes Abenteuer, denn wir und die Wissenschaftlergruppen, welche an der Verwirklichung der Forschungsarbeiten teilnahmen, hatten den Auftrag wörtlich genommen. Wir haben versucht, herauszufinden, wie wir im Lichte der wirtschaftlichen und sozialen Analysen der Folgen der technologischen Fortschritte der Wissenschafts- und Technologiepolitik eine neue Orientierung geben könnten. In Wirklichkeit hat die Institution aufgehört, ihre Rolle als Instrument der Industriepolitik, und stattdessen mehr, besonders seit der Mitte der achtziger Jahre, als Instrument zur Verbesserung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit zu sehen. Und daher sind die Beziehungen zwischen der Einrichtung und dem FAST-Programm in den letzten Jahren immer gespannter geworden, da wir sagten, dass man die Wissenschafts- und Technologiepolitik nicht den Bedürfnissen der Industrie unterordnen dürfte, dass man sie nicht zu einem Instrument im Dienste der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen werden lassen darf. Wir glaubten im Gegenteil, dass es die wichtigste Rolle der Wissenschaft und der Technologie wäre, den sozialen und kulturellen Anteil der Wirtschaftsentwicklung erstarken zu lassen, d.h. die Bevölkerung, Städte, Gruppen mehr am Wohlergehen und an der Definition der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung selbst teilhaben zu lassen ; zweitens die Zusammenarbeit zwischen Gruppen, Nationen, Kulturen zu verstärken und drittens Wissenschaft und Technologie darauf zu orientieren, die Grundbedürfnisse zu befriedigen, welche heutzutage, namentlich in den Entwicklungsländern, in denen die Folgen der Krise die Armut wieder haben entstehen lassen, sehr unzureichend befriedigt sind ; Wissenschaft und Technologie haben in diesem Bereich eine fantastische Rolle zu spielen. Eine der großen Initiativen Europas hätte es sein müssen, die Vereinigten Staaten und Japan - die anderen großen Länder der Wissenschaft und der Technologie - dazu aufzurufen, sich zusammenzufinden, um die Herausforderung anzunehmen, welche die Unfähigkeit des aktuellen Weltsystems darstellt, welches die Grundbedürfnisse wie Wasserversorgung, Wohnungsbau, Ernährung, Erziehung, Information, Freiheit, Demokratie, usw. nicht sicherstellen kann. Keiner unserer Vorschläge für eine gesellschaftsbezogene Wissenschafts- und Technologiepolitik auf der lokalen, europäischen oder Weltebene ist je berücksichtigt worden. Tatsächlich war es vom Jahre 1985 an die allgemein herrschende Orientierung der EG, Wissenschaft und Technologie hauptsächlich als Instrumente zur Verbesserung der wissenschaftlichen Grundlagen der europäischen Industrie und zur Verstärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten zu betrachten. Der traité unique führt zum ersten Mal in den institutionnellen Verträgen der europäischen Gemeinschaft die Wissenschafts- und Technologiepolitik ein. Die europäischen politischen Verantwortlichen haben es als notwendig erachtet, die Arbeit des FAST im September 1994 zu stoppen, denn wir entsprachen nicht den Forderungen und der herrschenden Tendenz. Seit einem Jahr hat man mich zum Verantwortlichen einer neuen Abteilung für Sozialforschung und eines Programmes über soziale Ausgrenzung ernannt.

Doch nach dem Ende des FAST-Programmes habe ich einige Schwierigkeiten, weiterhin in dieser Behörde zu arbeiten. Für den Augenblick wurde ich auf meinen Antrag hin für ein Jahr freigestellt, um an der Katholischen Universität Louvain zu unterrichten, hauptsächlich über die weltweiten Verstrickungen und ebenfalls über die Informationsgesellschaft.

Im Jahre 1991, zur Zeit des FAST-Programmes, hatte ich die Initiative ergriffen, die Lissabonner Gruppe ins Leben zu rufen. Diese Gruppe besteht aus neunzehn Persönlichkeiten aus den Vereinigten Staaten, Japan und Westeuropa, denen ich vorgeschlagen hatte, sich die Frage zu stellen, warum wir derart leichtfertig den massiven Gebrauch der Wissenschaft im Dienste der Unternehmensziele gutheißen. Warum müssen wir die Rolle der Wissenschaft, der Erkenntnis, der Technologie, den alleinigen Zwängen des Kampfes für die Eroberung der Weltmärkte opfern ? Warum erstellen wir nicht ein Manifest, in welchem wir, Europäer, Amerikaner, Japaner, unseren Widerspruch hörbar werden lassen. Mehrere Persönlichkeiten haben zustimmend geantwortet. Mit Unterstützung der portugiesischen Gulbenkian-Stiftung haben wir uns in Lissabon zusammengefunden. Wir haben dann damit begonnen, ein Manifest über die „Grenzen der Wettbewerbsfähigkeit” vorzubereiten. Nach seiner Fertigstellung im Jahre 1992 hat man es in mehrere Sprachen übersetzt. Wir haben die mit Lissabon und dem Jahre 1992 verbundene Symbolik benutzt : Die 500-Jahresfeier der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus. Lissabon ist ein Leuchtfeuer der Epoche der Großen Eroberungen und der Entdeckung der Neuen Welt gewesen. Wir sagen, dass wir heute mit der Geschichte von 500 Jahren Welteroberung durch das Abendland Schluss machen wollen, um aus den 500 kommenden Jahren Jahre von Solidarität, Verständnis und Zusammenarbeit zu machen. Es handelt sich nicht mehr darum, die Welt als Eroberungsgebiet zu betrachten, sondern eine Kultur der Zusammenarbeit an Stelle der Vorherrschaft zu erfinden, um eine kooperative Verwaltung der planetarischen Gesellschaft sicherzustellen. Das Manifest Limites à la compétitivité hat bei der Bürgergesellschaft, die durch Vereine und NGOs tätig wird, zahlreiche Echos gefunden, ebenso bei Gewerkschaften und denen, welche ich die aufgeschlossenen Eliten nenne.

Ausgegrenzt, verstoßen, versklavt
 
 

LEBEN IN KLEINEN SCHEINEN

Geopferte Generation. Ihrer eigenen Hoffnung geopferte Generation, zumindest eines Tages vielleicht ihren Schadensersatz als Opfer zu erhalten. Das Aufkratzen der Reste, das ihm eine kleine glückliche Mine aufsetzt, auf die Papa und Mama so stolz sind.

Doch steckt immer irgendwo irgend etwas - inmitten der Vergeltungen, der kleinen Fische, der kleinen Vergnügen, die man sich bereitet - etwas, was untergräbt.

Mittlerweile vergeht die Zeit. Eine Generation lässt die Zeit vergehen und wird täglich für die Gegenwart und für ihr eigenes Leben „unfähig”.

Minderwertiges Leben... minderwertige Arbeit : es schaffen, alle kleinen Berufungen, die kleinen Persönlichkeiten, welche man gern sein möchte, zusammenhalten zu lassen, während man sich gerade genug gesunden Menschenverstand vorbehält, um das Ganze im Rückgang zu revidieren, falls das schöne Gebäude Risse bekommt. Bis jetzt hatte keine Landplage, kein Krieg die Sehnsucht nach der Sehnsucht zerstören können. Wo steht der Feind ?... Denn das lässt in der Stadt und auf dem Gesicht hässliche Spuren, die Gewöhnung und die täglichen Zugeständnisse an das Schicksal, diese Gesichter mit langen Armen, Grimassen, krüppelhaft, um einen kurzen Augenblick im Blick des Anderen zu existieren - im Blick des Anderen, der Sie betrachtet, um zu wissen, ob Sie ihn betrachten... Im Warten ist die Jugend „totgeboren”. Es wird immer Leute geben, die sagen, dass sie es so gut gemacht haben, wie es halt ging.

 

Les P.V.P. : In Ihrem Buch Limites à la compétitivité erinnern Sie an den Ursprung des Wortes Konkurrenz, das vom lat. cum currere kommt, was gemeinsam das gleiche Ziel anstreben bedeutet. Das ist überhaupt nicht die Bedeutung, welche man ihm heutzutage gibt, im Gegenteil, dieses Wort scheint, einen allgemeinen Wirtschaftsprozess darzustellen, in welchem jedes Unternehmen seine Vorherrschaft und sein Wohlergehen nur sicherstellen kann, indem es den Anderen auf den Weltmärkten ausschaltet. Läuft diese Lesart des Begriffes Konkurrenz, um die Stichhaltigkeit des Wirtschaftskrieges als natürlichen Ausdruck des Austausches auf dem Markte zu rechtfertigen, nicht am Ende Gefahr, mehr Verwüstungen und Schädigungen als Reichtum zu schaffen, und ganz sicher zu allererst auf der Sozialebene ? Welche anderen Erwägungen könnten Sie im Gegensatz zu diesem Standpunkt vorbringen, in Übereinstimmung mit der Ursprungsbedeutung gemeinsam das gleiche Ziel anstreben ?

R.P. : Nicht am Ende wird der gnadenlose Wettbewerb, gemäß dem Prinzip „töten oder getötet werden”, Verwüstungen anrichten ; er hat schon jetzt auf der Sozial-, Politik- und Kulturebene für die Lebensbedingungen von Hunderten von Millionen Personen zerstörerische Folgen.
Der Zwang zur Wettbewerbsfähigkeit steht auch im Brennpunkt des berühmten Weißbuches der Europäischen Kommission, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeit, welches vom Präsidenten Delors inspiriert ist. Gemäß diesem Weißbuch steht der Wettbewerb am Angelpunkt des Wachstums und der Arbeitsstellen, und nur eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft könnte einen massiven Wachstum schaffen. Wenn es die Wettbewerbsfähigkeit andererseits erlaubte, den Wachstum wiederanzukurbeln, würde sie es ebenfalls erlauben, die Stellenangebote zu steigern und somit die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Dies ist nach meiner Meinung eine ein wenig an den Haaren herbeigezogene These, welche nicht notwendiger Weise durch die wirtschaftlichen Gegebenheiten bestätigt wird, z.B. jene, welche die OCDE in ihrem jüngsten Bericht über Arbeit und Wachstum veröffentlicht. Man kann die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Europäischen Gemeinschaft am Durchdringungsgrad in den Weltmärkten messen : Ein Unternehmen oder eine Wirtschaft ist in dem Maße wettbewerbsfähig, dass es ihren Marktanteil steigert, was ich den Imperialismus der Marktanteile nenne und was der wichtigste Anzeiger ist. Dagegen ist ein Unternehmen oder eine Nationalwirtschaft weniger wettbewerbsfähig, wenn ihr Weltmarktanteil abnimmt. Die Wettbewerbsfähigkeit definiert man vor Allem durch Wachstumskriterien auf den Weltmärkten, somit durch die Fähigkeit, besser als die anderen zu exportieren. Doch wir stellen fest, dass die europäischen Wirtschaftsmächte sich immer mehr untereinander vereinigen, d.h. dass der Kommerz zwischen ihnen schneller als mit dem Rest der Welt steigt : Im Jahre 1970 beziffert man den innergemeinschaftlichen Anteil am Welthandel zu 17 %, und im Jahre 1990 stellt er davon 33,5 % dar. Auf der europäischen Ebene treiben wir immer mehr untereinander Handel. Dies bedeutet, dass das europäische Unternehmen zunächst und vor Allem gegenüber einem anderen europäischen Unternehmen wettbewerbsfähig ist. Das belgische Beispiel ist symptomatisch. Wenn ein belgisches Unternehmen wettbewerbsfähig ist, bedeutet dies, dass es zunächst gegenüber einem französischen, holländischen und deutschen Unternehmen konkurrenzfähig ist, in dem Maße, dass 65 % ihrer Exporte in diese drei Länder gehen, und man kommt auf 75 %, wenn man England und Italien hinzufügt. Folglich betreffen drei Viertel ihres Außenhandels diese fünf Länder der Gemeinschaft, 87 % mit allen anderen Ländern der europäischen Gemeinschaft, 94 % mit den Vereinigten Staaten und Japan und 100 % mit dem Rest der Welt. Folglich ist das belgische Unternehmen zu 87 % seiner Exporte gegenüber anderen europäischen Konkurrenten auf den Europa- oder Weltmärkten wettbewerbsfähig. Wenn man keine neuen Produkte schafft, ist die Fähigkeit, die selben Produkte billiger und in besserer Qualität zu verkaufen, heutzutage die einzige Strategie, um auf den Märkten, die überentwickelt, reich und gesättigt sind, wettbewerbsfähig zu sein. Das Unternehmen führt technologische Neuerungen ein, um die Produktionskosten zu verringern. Indem man sie verringert, verringert man das Personal, somit die Arbeit. Ein belgisches Unternehmen, welches dieselben Produkte wie seine Konkurrenten auf dem Europamarkt verkauft, wird wettbewerbsfähig, indem es die Produktionskosten verringert, somit indem es Arbeit abschafft und Arbeitslosigkeit erzeugt ; dadurch verdrängt es andere europäische Unternehmen aus dem Markt, was darauf hinausläuft, Arbeitsplätze zu vernichten. Somit wird ein Unternehmen durch einen doppelten Prozess von Schaffung von Arbeitslosigkeit wettbewerbsfähig, in seinem Land, um wettbewerbsfähig zu sein, und bei den anderen Konkurrenten, weil es sie aus dem Markt verdrängt. Unter diesen Bedingungen zu glauben, dass ein Unternehmen oder eine Wirtschaft um so mehr Arbeitsstellen schaffen, als sie wettbewerbsfähiger sind, ist keine durch die Tatsachen erhärtete wirtschaftliche Gewissheit, im Gegenteil : je wettbewerbsfähiger man ist, um so mehr Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung erzeugt man.

Was das „gemeinsam das gleiche Ziel anstreben” betrifft, so würde ich sagen, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wahrhaftig eine Generation sind, die sich darüber bewusst ist, ein Teil desselben Planeten zu sein. Warum sind wir die erste planetarische Generation ? Ich kann Ihnen zwei Anekdoten erzählen, welche gut klar machen, was ich sagen möchte, ohne zu große Theorien aufzustellen. Die erste nenne ich „Erdkugeleffekt” : im Jahre 1969 hat man zum ersten Mal im Fernsehen die Kugel, den ganzen blauen Planeten vom Mond aus gesehen. Früher verstanden wir die Universalität abstrakt, jetzt haben wir verstanden, dass wir zusammen auf ein und demselben Planeten leben. Die zweite, weniger amüsante Anekdote, um das Konzept einer planetarischen Generation zu stützen, ist die Tatsache, dass die Personen sich von selbst darüber klar werden, dass ihre Zukunft nicht mehr von ihrer unmittelbaren Umgebung, von ihrem Land abhängt, sondern von der ganzen Welt. Wie oft rechtfertigen sich die nationalen Regierungen durch die Weltkonjunktur. Unsere Zukunft hängt nicht nur von der in unserem eigenen Land entwickelten und produzierten Technologie ab, sondern auch von der anderswo entwickelten. Ebenso hängt die Zukunft unseres Landes nicht einfach von unserer Währung ab, sondern auch von der Währung der Anderen. D.h. dass wir uns allmählich darüber klar werden, dass die Zukunft in der Welt, und nicht nur im nationalen Maßstab aufgebaut wird. Wir bemerken es auch, weil wir als Verbraucher von Produkten umgeben sind, welche aus der ganzen Welt stammen : Made in the world. Dies ist somit das zweite Element, welches aus uns die allererste planetarische Generation macht. Allmählich durchdringt diese Wirklichkeit die Individuen. Sie sagen sich, dass wir die erste planetarische Generation bilden und uns daher Regeln, Grundsätze, Werte, Einrichtungen und Funktionsweisen auferlegen müssen, welche uns erlauben können, uns in die Hand zu nehmen, uns als solche leben zu lassen, und dass wir nicht mehr weiterhin jene der Nationalgenerationen anwenden können. In diesem Sinne verstehen die Bürger, dass es an der Zeit ist, andere zu erfinden.

Selbst, wenn heutzutage das Schlimmste zu leben ist, wollen wir sagen, dass es zwei Möglichkeiten, das Schlimmste zu leben, gibt : Auf Knien, unterwürfig, ergeben, resigniert, gelähmt, vor seinem Fernseher schlafend, oder aufrecht, im Kampf, ruhelos, um die unumkehrbare Bewegung der Zeit in Richtung auf ihre Erfüllung zu begleiten, und diese Erfüllung wird letztendlich nur das sein, was wir werden erreichen können.

Die P.V.P. : Das Re-engineering erlaubt eine maximale Geschmeidigkeit in der Personalpolitik (André Gorz behauptet, dass es erlaubt, das gleiche Produktionsvolumen mit der Hälfte weniger Kapital und 40 bis 80 % weniger Personal sicherzustellen). In den fortgeschrittenen Industrieländern nährt dieses neue Modell von Umorganisation der Produktionsweisen ein Verunsicherungssystem, welches allmählich und auf Dauer zum Aufkommen einer Unter-Klasse führt. Die Amerikaner nennen diese bereits Under-class : Ganze Bevölkerungsschichten, welche dazu verurteilt sind, durch kleine Jobs oder Teilzeitarbeit unter der Armutsschwelle zu leben. Wie erschwert und nährt die weltweite Verstrickung des Kapitals und der Konkurrenz dieses Phänomen ? Andererseits taucht uns der Mangel an Projekten und Langzeitperspektiven in eine beispiellose Zivilisationskrise. Was kann man tun, um aus dieser Sackgasse herauszukommen ? Wäre nicht eine internationale Absprache in Betracht zu ziehen ? Wenn ja, dann wie und unter welcher Form ?

R.P. : Nicht nur sind die Bevölkerungen planetarisch geworden, sondern der nationale Industriekapitalismus hat sich auch in einen Weltkapitalismus verwandelt. Während sich eine Kultur der planetarischen Generation nur schwach entwickelt, ist die vom Weltkapitalismus aufgezwungene Kultur stark, weil er die Sozialgruppen, die Eliten, welche die Denkmeister sind, mit sich hat. Dies ist eine der Grundcharakteristiken der aktuellen Welt : Das Unternehmen ist zum Akteur Denkmeister geworden, zu jenem, welcher Rhetorik und das Argument für das, was gut und gerecht ist, erzeugt. Die Industriewelt macht Kultur, mit der Finanzwelt, und alle Wissenschaftler, Technokraten, Bürokraten, Intellektuellen, Ingenieure, Handelsschulen, Verwaltungsschulen, Universitäten stehen im Dienste eines Weltkapitalismus, welcher von der Liberalisierung der Märkte, Abschaffung der Regeln und Privatisierung ganzer nationaler Wirtschaftszweige charakterisiert ist. Diese haben heutzutage eine größere Fähigkeit als die Anderen, die kulturelle Tagesordnung festzulegen. Somit ist das Unternehmen mit all seinen Dienern der Hauptkulturproduzent, und nicht mehr Universitäten und Gewerkschaftsbewegungen. Im 19. Jahrhundert haben Gewerkschaften, Solidaritätsversicherungen und Arbeiterbewegungen auf den siegreichen Nationalkapitalismus Druck ausgeübt und neue Ideen und Konzepte wie Wechselseitigkeit, garantiertes Gehalt, Wohlfahrtsstaat usw. geschaffen. So wurde allmählich der Nationalkapitalismus der Kontrolle durch nationale Sozialverträge unterworfen. Im Gegensatz dazu produziert heutzutage nur das Unternehmen als Akteur der weltweiten Finanz- Kapital- und Dienstverstrickung Kultur : Es spricht von Flexibilität, Re-engineering, Weltmarkt, Anpassung, menschlichen Reserven. In der Logik des Weltkapitalismus, welcher darauf abzielt, Profit und Finanzkraft zu steigern, ist Re-engineering eine neue Art und Weise unter anderen, das Produktionssystem für die Verringerung der Kosten zu organisieren. Es ist ein neuer Auslöser von massiver Zerstörung der Arbeitsplätze. Wenn das Unternehmen den Ausdruck „menschliche Reserven” an Stelle der Menschen erfunden hat, dann weil die Menschen durch diesen Ausdruck Reserven „unter anderen” werden. Die menschliche Reserve ist kein Sozialthema, sie ergreift nicht das Wort, verhandelt nicht, protestiert nicht, geht nicht auf die Straße, sie ist nur eine Reserve, welche man mit anderen Reserven organisieren muss. Aus diesem Grunde gibt es keine wirklichen Gewerkschaften mehr, die menschliche Reserve braucht sie nicht mehr, sie kann sich nicht institutionell und strukturell als Gewerkschaft organisieren. Somit schafft das Unternehmen durch all diese Begriffe : Menschliche Reserven, Anpassung, Verringerung der Kosten, Informationsgesellschaft, Informationsautobahnen die politischen und kulturellen Debatten, welche anschließend gemeinverständlich gemacht werden. Die herrschende Debatte wird nicht von der alternativen Kultur oder jener der Schwachen, der Armen hervorgerufen. Dies ist eine der schwersten Gefahren. Wenn die Gewerkschaft zu einem wirklichen sozio-politischen und wirtschaftlichen Akteur des Weltmarktes werden will, muss sie sich im Weltmaßstab organisieren und dazu fähig werden, die begriffliche Tagesordnung umzustürzen. Der Kampf kann sich nicht mehr auf die Zahl der Arbeitsplätze beschränken, auch wenn dies sehr wichtig ist - der Verlust eines Arbeitsplatzes ist dramatisch, er muss die Rhetorik im guten Sinne des Begriffes betreffen, d.h. Argumentation, Entscheidungen, Werte, Prioritäten. Solange man der kulturellen Tagesordnung unterworfen bleibt, welche uns vom Weltkapitalismus durch das Unternehmen und all ihre Diener, von den Staaten bis hin zu den Regierungsbehörden und auch von den Universitäten aufgezwungen wird, werden wir nicht anders denken können. Wenn man mich heute fragt, was zu tun ist, antworte ich, dass man zu allererst dem Zwang zur Wettbewerbsfähigkeit als Grund- und Regelprinzip der Weltwirtschaftsorganisation seine Legitimität nehmen muss ; und wenn dies erst einmal gelungen ist, kann man an anderen Perspektiven, an der Unabdingbarkeit eines neuen Weltsystems arbeiten. Sind die UNO-Behörden hierzu geeignet ? Unsere Antwort ist wohlverstanden Nein ! Sie stellten vielleicht eine Antwort dar, welche fünfzig Jahre lang funktioniert hat, sie sind das Resultat der Geschichte des Nationalkapitalismus, des Nationalstaates und des nationalen Marktes. Heutzutage hat die weltweite Verstrickung den nationalen Markt, welcher eine der Grundfesten der Macht des Nationalstaates ist, getötet. Indem sie ihn vernichtet, verändert sie den Nationalkapitalismus und verlagert die Aktionsfähigkeit der demokratischen und politischen Kontrolle der res publica. Die res publica ist geschwächt, weil eine der Grundfesten des Nationalstaates, welche die nationale res publica ist, und auf welcher anschließend die sozialen Kämpfe und der nationale Sozialvertrag des 19. und 20. Jahrhunderts beruhen, die Existenz einer nationalen Wirtschaft war. Wenn diese vernichtet wird, vermindert sich die Rolle der öffentlichen Gewalt. Und so entsteht bei den Vertretern des Weltkapitalismus dieses seltsame Phänomen, dass sie behaupten, dass es für einen nationalen Sozialvertrag kein einziges Argument mehr gibt, dass er einen Klotz am Bein der Wirksamkeit der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und von uns allen darstellt. Das ist die Höhe ! Die Denkmeister der Tagesordnung haben es geschafft, das, was eine Grunderrungenschaft der Menschheit auf der Sozialebene war, die Konzepte von Wohlfahrtsstaat, Sozial- und Rechtssicherheit, in einen Klotz am Bein der Wirtschaftsverantwortlichen zu verwandeln, sie haben es tatsächlich geschafft. Man müsste im Gegenteil am Übergang vom nationalen Sozialvertrag, welcher es ermöglicht hat, den Nationalkapitalismus zu kontrollieren, zu einem Weltsozialvertrag arbeiten. Der kürzeste, kleinste Horizont, welchen man sich ausdenken kann, um etwas zu ändern, ist um die 25 Jahre. Es ist unnütz, zu glauben, dass man Weltwirtschaft, Weltgesellschaft, und Weltpolitik in drei, fünf Jahren ändern könnte, so stark sind seit Jahrzehnten verfestigte Trägheit und Macht. Wie kann man das Problem lösen, damit die erste planetarische Generation die fünf Punkte für seine Zukunft : Gerechtigkeit, Wirtschaftswirksamkeit, Demokratie, Respekt der kulturellen Vielfalt und eine erträgliche Gesellschaftsentwicklung in Einklang bringen kann ? Wenn wir uns in die Perspektive von 25 Jahren begeben, müssen wir mit acht Milliarden Personen rechnen, welche dauerhafte Bedürfnisse an wirksamen und preiswerten Wohnungen, Erziehung, Transport und Energie haben. Heutzutage sind diese Bedürfnisse in einem hohen Maße unbefriedigt : in diesem Augenblick haben eine Milliarde vierhundert Millionen Personen kein Trinkwasser. Wie viele werden es in 25 Jahren sein, wenn wir die Rhetorik des auf Liberalisierung des Austauschs, Abschaffung der Marktregeln, Privatisierung der Wirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit, um zahlungskräftige Märkte zu erobern, gegründeten Weltkapitalismus ihr Gesetz durchsetzen lassen ? Offensichtlich noch viel mehr. Ebenso haben augenblicklich ungefähr eine Milliarde vierhundert Millionen Personen keine wirkliche Wohnung, verdienten im Jahre 1993 eine Milliarde vierhundert Millionen Personen weniger als einen Dollar am Tag, eine Milliarde zweihundert Millionen sind Analphabeten und eine Milliarde zweihundert Millionen Leute sind arbeitslos.

Die P.V.P. : In einigen Ihrer Artikel sprechen Sie von der Notwendigkeit der Empörung. Können Sie uns Ihre Meinung hierzu zum Ausdruck bringen ? Weiterhin, und in Hinblick auf die tragische Lage, welche wir heutzutage durchleben, glauben Sie nicht, dass die „Zurückhaltungspflicht” der Beamten, der Behördenleiter jetzt an „einer Pflicht zur Empörung” anstößt ? Wird dies nicht in der Tat notwendiger Weise zur Pflicht eines jeden Beamten, welchen seine Arbeit dazu führt, eine Kenntnis der wirklichen Situationen zu besitzen, gleich, ob sie Wirtschaft oder Sozialwesen betreffen ? Tragen z.B. die Leitenden Persönlichkeiten, Experten, Hohen Beamten, welche freiwillig oder auf Befehl an der Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung teilnehmen oder kollaborieren, hierfür die Verantwortung oder nicht ? Und wenn ja, hätte dann die Justiz oder andere Instanzen nicht in einer nahen oder ferneren Zukunft das Recht, von diesen Verantwortlichen Rechenschaft zu verlangen ? (Wir denken selbstverständlich an den Nürnberger Prozess oder den kürzlich stattgefundenen „AIDS-Blut-Prozess” oder die in verschiedenen europäischen Ländern gegen Bestechung und Amtsmissbrauch eingeleiteten Verfahren).

R.P. : Heute „wissen wir, dass wir wissen” - wohlverstanden in gewissen Grenzen - dass Menschen, Städte, ganze Länder verwahrlost und sich selbst, ihrer Armut überlassen werden, wenn wir die wettbewerbsträchtige, liberalisierte, dem Zwang des Wirtschaftskrieges unterworfene Welt weitermachen lassen. Später werden Sie nicht wie seinerzeit die Nazis sagen können, dass Sie es nicht wussten. Sie haben keine Entschuldigung, denn Sie werden morgen nicht sagen können, dass Sie erst jetzt die Konsequenzen der Verblendung des Weltkapitalismus entdecken. Damit kann man feststellen, dass das ganze Ethik-, Verantwortlichkeits- und Aktionsproblem ein vollständig Anderes ist. Wir werden uns wohl darüber klar, dass wir im Weltmaßstab eine immer mehr „zersplitternde” Gesellschaft schaffen, die immer mehr Ausgrenzung und Aggressivität zwischen den Leuten schafft, wo sich ein Jeder verteidigt, um sein Überleben sicherzustellen, was bedeutet, das Überleben des Anderen zu verhindern. Selbst wenn die Leute dazu gedrängt werden, so zu handeln, werden sie sich darüber klar, dass es nicht notwendiger Weise gut ist, dazu gezwungen zu sein, ständig Gewinner, und nie Verlierer zu sein, dies sind Kriege, welche niemand gern führt. In diesem Zusammenhang glaube ich, dass klar die Pflicht zur Empörung entsteht. Empörung bedeutet, nicht einer objektiv unannehmbaren Lage beizupflichten. Die Empörung muss jedermanns Sache werden, bis hin zu den Bürokraten. Ich schließe allerdings die Finanzwelt aus, niemand empört sich hier oder hat auch nur den Durchblick. Sie fragen mich, ob der der Zurückhaltungspflicht unterworfene Beamte das Recht hat, diese Empörung zu zeigen. Ich glaube ja, weil ein Beamter auch ein Bürger ist, und er hört nicht auf, Bürger zu sein, weil er Beamter wird. Ich kann mir kaum vorstellen, dass alle Beamten auf der Welt keine Bürger mehr sind, worauf hätte man dann das Bürgerrecht reduziert ? Der Beamte hätte das Bürgerrecht nur im Geheimnis der Wahlurnen. Dies ist Vorspiegelung falscher Tatsachen ! Unsere Gesellschaften sind oder werden im Gegenteil besser, wenn die Teilnahme des Bürger zunimmt, und nicht wenn ein Beamter kein Bürger mehr ist, selbst, wenn er schläft, weil er 24 Stunden am Tag seinem Diensteid unterworfen ist ! Das Bürgerrecht ist auch das Recht, das Wort zu ergreifen. Der Beamte hätte nur Rederecht, wenn er ausscheidet, oder aber innerhalb der Verwaltung, unter der Bedingung, dass er nicht mit Leuten von draußen spricht ! Dies ist eine Verminderung des Rechtes auf das Bürgerrecht. Ich glaube, dass eine Verwaltung um so wirksamer ist, je mehr sie auf der Vielfalt des Ausdrucks und der Art und Weise, manche Ziele zu erreichen, beruht. Wohlverstanden glaube ich nicht, dass ein Beamter Politik an Stelle des Politikers machen sollte, aber auf der Grundlage dessen, was er weiß, was er sagt und beobachtet, hat er das Recht, sein Argument und auch sein Gefühl auszudrücken. Der Heilige Augustinus sagte, dass der Mensch, welcher seine Leidenschaft verloren hat, mehr als jener verloren hat, welcher sich in seinen Leidenschaften verliert. Übrigens erkennt man es heutzutage mit der Chaostheorie an : auf der wissenschaftlichen Ebene gibt es nicht nur die rationelle, sondern auch die emotionelle Seite, und beide stehen nicht unbedingt im Gegensatz, sondern ergänzen einander. Warum könnte ein Beamter angesichts dessen, was er entdeckt, keine Gefühle haben ? Ich bestehe sehr darauf, dass unsere Gesellschaft unsere Verantwortlichkeit mit einbezieht. Verantwortlichkeit bedeutet nicht, zu wissen und zu schweigen, die Verwaltung muss verantwortlich werden, sie kann sich nicht hinter dem „ich bin ein Handlanger der Politiker” verstecken. Wir können die Politik vielleicht nicht bestreiten, denn wir sind keine Wahlkandidaten, aber unsere Ethik sagt uns, dass wir hörbar sprechen müssen, wenn die auszuführende Politik nicht angemessen ist. Was die Verantwortlichkeit der Beamten betrifft, so glaube ich nicht, dass sie auf der strafrechtlichen Ebene zu suchen ist, sie befindet sich mehr im moralischen und kulturellen Bereich.

Gespräch aufgezeichnet von
Christopher Yggdre


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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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