WINTER 1995/1996 S. 36-41 |
Die Weisen lieben Ignoranz |
Natural born killers, © 1994 |
Ungeduld erweckt zum Leben, was Geduld getötet hat |
Erscheinen der Nr. 2 der Périphériques, „Objektiv Jugend”. Wir suchen für die Jugend eine andere Definition, als „naturgegeben”, an das Lebensalter der 15-25-Jährigen gebunden. Wir definieren die Jugend als „kulturbezogen”, als eine für jedes Alter zu erfindende Jugend. Diese Definition enthebt uns der Generationenkonflikte und des Widersinnes, von Jugendproblemen im Gegensatz zu denen der Erwachsenen zu sprechen, sie gibt der Wesensart eines Jeden, seinen Ideen und seiner Fähigkeit, letztere sich entwickeln zu lassen, Gewicht.
In Frankreich läuft der Film Natural Born Killers von Oliver Stone an. Ich bin im Kino in einer sehr klaren Verfassung, mit der Forderung, welche mir das Kino auferlegt, über das, was meinem Blick vorgesetzt wird, nachzudenken und nicht in das Sich-Gehen-Lassen der vorbeihuschenden Bilder, in den Strom von Eindrücken und Träumen, welche uns zur Flucht aus der Wirklichkeit verhelfen, zu verfallen. Ich möchte sichtbar und greifbar machen, was ein Film mir zu sagen erlaubt, ihm entsprechend meiner Wahl eine Wirklichkeit geben, darüber sprechen, ohne von ihm zu sprechen. Ich will vor Allem nicht das Kino mit einer Kunstvorstellung überdecken, welche daraus einen vernunftwidrigen, unerklärbaren, häufig unpolitischen Schöpfungsakt machte, welcher sich durch seine Eigenart jeder Erklärung und jeder Diskussion entzöge und lebenslang der stillen Betrachtung anheim fiele. Ich möchte all dies von mir weisen, damit mein Blick sich nicht verliert, nicht unscharf und wässrig wird und sich vor Allem nicht von der Reinheit und Präzision der Filmkunst abwendet.
Im Laboratorium für praktische Studien über den Wandel arbeiten wir am Phänomen des sync, wie es Hall in Au-delà de la culture beschreibt :
Während der sync häufig in Alltagssituationen, z.B. auf einem Schulhof, existiert, versuchen wir hier mit fünfzehn Personen, ihn zu erzeugen. Ich stelle im Laufe der Arbeit fest, dass in sync zu sein keinesfalls bedeutet, sich für eine Gemeinschaft zu opfern oder den Anderen anzupassen. Ganz im Gegenteil : Rhythmische und gestuelle Initiativen und einzigartige Ereignisse sind Grundbedingung für die Schaffung einer kohärenten Bewegung ; sie sind für den sync das, was das außerhalb des Blickfeldes Liegende für das Bild bedeutet, was es dem Bild erlaubt, sich zu entwickeln, indem es ganz andere Rahmen schafft. Ohne Zuhören kann nichts außerhalb des Blickfeldes auftauchen. Sobald es geschaffen ist, wird es zerstört, kein sync entsteht unter uns, unsere Selbstzurückgezogenheit und Gleichgültigkeit führen uns zu monotoner Wiederholung und mechanischer Einmütigkeit. Seitdem stelle ich mir die Frage, ob in unserer Gesellschaft politische, soziale oder andere Situationen existieren, welche wie der sync Dinge außerhalb des Blickfeldes aufdecken und unseren Weltblick schärfen könnten.
Ich sage mir, dass zwischen diesen drei Ereignissen eine Verbindung besteht. Ich möchte diese entdecken.
* * *
Ich befinde mich vor einer Kinoleinwand wie am Rande eines Abgrundes. Ich betrachte nicht Bilder, ich befrage Bilder, welche mich ihrerseits betrachten und über meine Zukunft befragen... Vor drei Jahren stand ich auf einer Theaterbühne : „No future, Angelina”, raunten mir meine Brüder ins Ohr. Ich wollte es nicht glauben. Und heute ?
Vor dieser Leinwand erlebe ich einen Weg, einen Lauf, eine Flucht, eine Verhaftung, eine Suche, ein Unbehagen, eine Qual, die von Mickey und Mallory Knox, ausgedachter, mythischer Figuren, Abbildern von Dekadenz und Hoffnung, wie sie Oliver Stone an einem Wintertag eingefangen hat. Unbehagen, Unbehagen in der Zivilisation...
Ich bin nicht ins Kino gekommen, um eine Geschichte zu betrachten, vor Allem nicht das. Ich bin gekommen, um hier Bruchstücke, Bedeutung, Bedeutungslosigkeit der Bedeutung zu suchen. Ohne vorgefasste Ideen, ohne Idealprojektionen. Vor Allem versuche ich nicht, mir auszudenken, was ich zu sehen bekommen werde. Im Warten auf den Film lenke ich meine Aufmerksamkeit allein auf die Entwicklung des Kinos, eine grinsende Zukunft. Auch dort besteht ein Unbehagen. Ich muss einfach Verbitterung gegenüber dieser Kunst verspüren, denn diese nimmt immer mehr eine „gleichgeschaltete Wirklichkeit” zum Modell, und dies auf die schlimmste Art : Die selbstgefällige Beschreibung einer Welt, die uns schon jetzt zu sehr anekelt. Es ist traurig anzusehen : Das Kino wird platt wie Durchschnittsleben, einhellig wie die Entsagung und feige wie das Warten. Hat es denn jeden Ehrgeiz verloren, aus der Wirklichkeit eine Hoffnung, einen Bruch, einen Schrei, einen tötenden Ton und ein tötendes Bild zu machen ?
Ich bin hier jedenfalls in einem Kinosaal. Ich höre nicht auf, zu suchen, zu hoffen. Plötzlich erschrecke ich vor einer Erinnerung : Ich selbst bin vor meinem alten Schwarz-Weiß-Fernseher dabei, darauf zu warten, das Ende der Geschichte eines Films, eines Telefilms, zu sehen. Wäre dies eine Jahrhundertkrankheit, zu betrachten, um eine Geschichte zu sehen, zu sehen, ohne „das Sehen” zu sehen ? Wenn ich mich an die Ereignisse hänge, besteht zwischen mir und dem Fernsehen eine Nabelschnur, die sich Geschichte nennt und mich verdummt. Nur das befindet sich auf dem Bildschirm, ein kleiner Rahmen, der jedes Bedeutungselement vertreibt. Außerhalb des Rahmens existiert selbst nichts mehr, oder genauer, es bedeutet die Herrschaft der Geschichte über alles, eine sehr schreckliche Logik, welche dem Gesagten, dem nicht Gesagten, der Suche nach dem Sinn nicht ihren Platz lässt. Die Geschichte hat im Kino immer existiert, um etwas Anderes als ihre eigene anekdotische Aufzeichnung zu bedeuten. Sie ist die Masche, welche dem Filmemacher am Ende seiner Suche erlaubt, aufzubauen, was er zu sagen hat. Heute zeigt uns das Fernsehen die Dekadenz eines Kinos, welches sich von ihm durchdringen lässt, während ein Kino der letzten Atemzüge uns erbarmungslos die Unmöglichkeit des uns heutzutage vorgesetzten Fernsehens zeigt.
Ich habe im Kino den Augenblick gern, wo die Leinwand erlischt. Wir können unsere Lust nicht mehr einem Dritten überlassen. Das Ende der Geschichte verkündet unsere Zukunft. Die Darsteller verschwinden auf der Leinwand, während nur bleibt, was wir unsererseits aus ihnen machen können, im Maßstab eines Kinos, welches aus dem, was es uns nicht sagt und aus dem, was wir darüber zu sagen haben, entsteht. Wie kann man „einen Film verausgaben”, wenn das Kino uns die Möglichkeit gibt, Bedeutung und Leben in dem, was nicht schon da ist, im Mehr oder Weniger eines Bildes, im Mangel, im zu erfindenden Anderswo zu suchen ? Wie kann man ihm sein Gewicht geben, ihn sprechen lassen, ihn im Tageslicht weiterlaufen lassen ?
Die Natural Born Killers sind ihren Weg gegangen, sie haben uns ihre Entscheidungen, ihre Gewalt gezeigt, das Fernsehen hat uns seine Rolle als Regisseur einer rohen Wirklichkeit, die aus allem ein Spektakel macht, geschildert, es hat seine Opfer erzeugt, indem es sie als Idole errichtet hat. Und was werden wir während der ganzen Zeit und danach antworten ?
Wenn ich den Blick um mich herum schweifen lasse, sage ich mir auf einmal, dass es keine Moralität mehr gibt : Ausgrenzung erzeugt Ausgrenzung, auf allen Ebenen. Wenn ich an die Moralität denke, sage ich mir, dass es wohl eine gibt, meistens erzeugt sie Schuldgefühle. Sie verhindert die Zukunft wie die Komplizin einer Logik des Schlimmsten. Wenn ich an die Zukunft denke, so sage ich mir, dass es nicht so einfach ist, darauf hinzuarbeiten, dass es nur von uns abhängt. Man muss auch noch lernen, in uns und überall zu sehen, was die Frage der Zukunft verdrängt.
Was wird aus einer Gesellschaft, wenn Heranwachsende kaltblütig, ohne Furcht, ohne Gewissensbisse, ohne Bedauern, ohne Gefühle töten können ? Sind sie sich über alles klar, was der Akt, ein Gewehr zu ergreifen, ausschließt ? Mickey und Mallory Knox morden und man verfolgt sie. Man verfolgt sie wegen ihrer kriminellen Akte, ihrer Morde, aber vor Allem wegen ihrer Bilder. Es gibt Gewalt in diesem Film, wie in Amerika oder woanders. Doch all jene, die glauben, dass dieser Film die Gewalt verherrlicht, meinen, dass die Gewalt zu zeigen bedeutet, ihr beizupflichten, während jene, die im Gegenteil glauben, dass er sie denunziert, entgegenhalten, dass man nur dann unser Bewusstsein erwecken kann, wenn man davon die schlimmsten Auswüchse zeigt. Auf der einen Seite ist man unmoralisch, auf der anderen ist man Moralist. Es ist vielleicht nicht ganz so einfach, und das Problem liegt vielleicht nicht einmal dort. Was will man im Grunde im Kino, katalogisieren oder über sich hinaus gehen ? Man hat zu häufig den Reflex, in einem Film zu sehen, was man gern darin sehen will, eine beglaubigte Photokopie unserer Vorurteile und unserer Gewissheiten. Es wäre traurig, sich nur auf die Eindrücke aus der Geschichte dieser beiden Mörder zu verlassen, sich am von unserem vorgeblichen gesunden Menschenverstand diktierten Urteil festzuklammern, ohne sich zu fragen, was diese Geschichte uns sagen kann, zu welcher Bedeutung sie führt, außerhalb dessen, was unser Gewissen oder unser Moralismus darin sehen möchte. Dies ist eine Art und Weise, einen Film für immer zu begraben. Ich möchte von nun an mit anderen Augen sehen. Am Ende ist es wichtig, sich über das, was nicht direkt gezeigt wird und über das, was wir gewöhnlich nicht sehen und denken, Fragen zu stellen. Mickey und Mallory Knox sind keine Mörder, sie sind als Mörder geboren, hierin liegt der Unterschied zwischen einem Film, welcher die Gewalt zum Spektakel machte, sei es nun, um sie zu verherrlichen oder zu verdammen, und diesem Film, der aufzeigt, mit welchem Druck und welchen Perversionen eine Gesellschaft unausweichlich ihre eigenen Mörder erzeugt.
„Man kann nicht von Geburt an ein Mörder sein, man wird gewalttätig. Töten lernt man.” entgegnet der Fernsehreporter Mickey, welcher darauf besteht : „Ich bin als Mörder geboren.” Der Reporter kann sich damit nicht abfinden. Man errät seine Gedanken, welche häufig die Unsrigen sind : „Aber wie kann man denn nur als Mörder geboren sein ? Gewalttätig zu werden, dies ist eine Entscheidung des Individuums, seine Verantwortlichkeit selbst, das liegt nur an ihm, an seiner Rechtschaffenheit, zweifellos an seinen schlechten Entscheidungen, an schlechten Beziehungen, schlecht angelegter Willenskraft”. Böse, um böse zu werden ! Steht die Versicherung „Ich bin als Böser geboren” nicht im Widerspruch zur „gleichgeschalteten Wirklichkeit” ? Es handelt sich hier beinahe um eine logische Unmöglichkeit, einen Un-Sinn. Mickey und Mallory Knox können sicher keine geborenen Mörder sein, sie haben zwischen Gut und Böse gewählt. Dies versichert uns, die wir unser Gewissen nicht verloren haben, dass wir nicht so sind.
Doch handelt es sich hier nicht eher um einen logischen Irrtum, wie ihn Nietzsche zurückgewiesen hat ? Verwechselt man nicht Ursache und Wirkung, wenn man über Mickey und Mallory Knox sagt, dass sie nur böse werden können ? Man befragt sich über das Individuum, welches allein für sein Schicksal oder sein Scheitern verantwortlich ist. Die Moralität stürzt sich auf ihn, zerfleischt ihn und beraubt ihn seiner selbst ; sein Unglück verwandelt sich in Rechtfertigung und sein Niedergang in Morallosigkeit. Man bestraft ihn, man verfolgt ihn, man lädt ihm Schuld auf. Man vergisst alles, was nicht im Blickfeld liegt, man vergisst, dass die Ausgegrenzten heutzutage als Ausgegrenzte zur Welt kommen, wenn sie es nicht schaffen, sich gegen den Strom, gegen ihr Schicksal eine andere Zukunft zu geben. Kann man in einer von Anfang an, bei unserer Geburt, lange vor uns verfälschten Gesellschaft „rechtschaffen” zur Welt kommen ? Bliebe denn nur noch die Eingliederung, um unsere Rechtschaffenheit zu retten ? Solange man dem Individuum derartige Schuldgefühle aufzwingt, will man es weiterhin „vernormen”. Daher kommt unsere Schwäche, nicht Rahmen und Gesellschaft zu wechseln. Folgender Satz von Maurice Mallet bezüglich der Psychiatrie hallt hier ungedämpft wider : „Da es sehr viel schwieriger ist, die Gesellschaft zu heilen, vergreift man sich am Kranken.” Wenn man die Wirkung für die Ursache hält, dann erhebt man diesen Eingliederungsmythos zum Symbol. Dies ist ein Akt von Verblendung. Wo er beginnt, endet die Freiheit des Individuums.
Man soll vor Allem nicht glauben, dass ich damit Lager gegen Lager die Meinung derer teile, welche rufen, dass die Gesellschaft schuld ist und damit den individuellen Akt auf eine ganz genauso moralische Weise reinwaschen. Das „als Böser auf die Welt kommen” mit der Anklage der Schicksalhaftigkeit der Gesellschaft zu rechtfertigen hieße tatsächlich, die Filmellipse für ein einfaches Überblenden zu halten. Dann sollen sich all jene, welche die ganze tagtäglich erlebte Ungerechtigkeit gewähren lassen, nicht wundern, dass ihre Kinder zu programmierten „geborenen Mördern” werden. Was mich selbst betrifft, so möchte ich im Gegenteil sagen, dass dieses „als Böser zur Welt kommen” uns zeigt, dass die Individuen vor sich selbst und ihrem guten Gewissen über den Zustand einer Gesellschaft, welche sie mit schaffen oder schaffen lassen, Rechenschaft ablegen müssen.
Anderswo, zu einem anderen Zeitpunkt, in einer anderen Epoche, auf einer anderen Ebene entgeht ein Student zweifellos ohne zu es wissen nur knapp dem Schicksal eines geborenen Mörders. Dieser Student sagt sich, dass das Hochschulwesen Professorenphilosophie und Philosophieprofessoren erzeugt. Erfindet er sich das Unbehagen eines nutzlosen Diplomes, weil er sich nicht anpassen kann, oder aber handelt es sich um ein wirkliches Problem ? Er weiß, dass manche Professoren seine Äußerungen gering schätzen und selbst vernichten. Muss er also glauben, dass er selbst nicht klar sieht, oder sollte er nicht im Gegenteil besser versuchen, durch eine rationelle Kritik der Universität die Ursachen seines Unbehagens zu finden ? Er kann sich mit Selbstvertrauen wappnen und sich sagen, dass er nicht die Auswirkungen einer Ausbildung, welche Mumien mit aller Gewalt aufrechterhalten wollen, erdulden will. Dies ist möglich. Oder etwa nicht ?
ES LEBE DAS KINO Die Jugend wollen wir anderswo suchen, als in Bildern, welche nur ihre Klischees sind. Besser, wir wollen sie erfinden. Wir ziehen Filmemacher vor, die uns ein Bild geben, damit wir erforschen gehen können, was nicht in ihm liegt. Wir wollen aus dem Rahmen treten ! Kulturbezogen ist das Verlassen des Rahmens der Grundakt der Jugend. Der Reichtum des Bildes ist das, was außerhalb seines Rahmens liegt, was man erforschen muss. |
In einem anderen Leben, dem Familienleben, gibt es auch lobenswertes Bewusstsein. Gegenüber dem Vater, welcher zu seinem Sohn sagt : „Du bist böse, sieh an, wie böse du bist”, muss letzterer kämpfen, um nicht zu dem zu werden, dessen Stempel man ihm seit seiner Geburt aufgedrückt hatte. Wenn andererseits der Sohn zu dem wird, was sein Vater ihm mit Autorität einhämmerte, so wird letzterer noch nicht einmal auf die Idee kommen, dass man sich vielleicht eher seines eigenen Falles hätte annehmen sollen. Die Ursache wendet sich gegen die Wirkung, die Wirkungen gegen die Ursachen... „Die Verdrängung kommt nicht von der Strafe, die Strafe kommt von der Verdrängung”, sagte Lacan. Was verdrängen wir, das manche nicht werden zurückhalten können ? Es ist schon rechtens, dass man die Unbill der Gewalt anprangert, doch spricht man selten über die andere Gewalt, welche sie begründet hat. „Man spricht von Gewalt, wenn ein Fluss ungebändigt alles mit sich reißt, aber wenn die Ufer ihn gewaltsam in sein Bett zwingen, dann schweigt man still”, sagte Brecht. Man vergisst ständig, über die andere Wirklichkeit zu sprechen, welche uns einzwängt und uns zum Ende, bis zu den schlimmsten Verbrechen treibt, wo man das Recht hätte, uns einzusperren. Weil man es nicht besser weiß, lädt man dem Individuum Schuldgefühle gegenüber seinen Perversionen und seinen Sünden auf, damit unser Blick weiterhin ein wie die Unschuld eines Kindes glattes Gesellschaftsideal betrachten kann.
Doch plötzlich bekommt man Lust, einen anderen Weg einzuschlagen. Zumindest manche. Sich ein wenig mit der Behauptung beschäftigen, dass ein Individuum als Böser zur Welt kommen könnte. Ich bin böse geboren, bevor ich es wurde, und sofort Rahmenwechsel, entgegen aller Voraussagen eröffnet sich der Abgrund einer Welt, die man verdrehen und verbiegen kann. Wir können das Individuum hier nicht mehr auf eine abstrakte, zeitlose Weise begreifen und glauben, dass man seine Natur definieren kann. Hier wird das Individuum zu dem, wodurch man die soziale und politische Ordnung analysieren, sich über die Ausübung unserer Freiheit Fragen stellen, die Regeln, welche uns gegen unseren Willen lenken und die Manipulationen, an welche wir uns gewöhnen, ausfindig machen kann. Man wirft unleugbar das Licht auf das Individuum selbst, aber ebenso auf unsere gesamte Gesellschaft. Wir erforschen ihre Logiken, ihre perversen Auswirkungen und die Zwänge, denen das Individuum von Kindheit an unterliegt. Indem das Individuum zeigt, was außerhalb seines Rahmens liegt, entschleiert es uns die Epoche mit ihrer Brutalität, ihrer Härte und ihren Kriterien.
Mickey und Mallory Knox erlangen ihre Freiheit um den Preis ihrer Verneinung. Um leben zu können, hat man nur die Möglichkeit, auf seine Freiheit zu verzichten. Die einzige Art und Weise, einer erstickenden Moralität zu entgehen und sich einer Gesellschaft, welche ihre Lebensweisen durchsetzt, zu entledigen, ist es, seinen Taten jede Moralität zu nehmen. Genau das zeigt uns Oliver Stone, wenn er uns durch Rückblenden einer kurzen soap opera Mallorys Aufwachsen erzählt. Diese ist das getreue Abbild von etwas bis zum Geht-Nicht-Mehr Nichtssagendem, zwischen einer Mutter, welche auf die Nerven geht, und einem Vater, der am Arsch herumfummelt. Was ist in der Tat schneidender, um dieses middle class-Leben zu zeigen, als die Form der Fernsehunterkultur selbst, welche es erzeugt hat, zu wählen. Man kann sie an ihrem fetten Bild und am Einblenden ganz genauso fetten Gelächters erkennen. Zum Glück gibt es jene, die nie gelacht haben.
Können wir es zulassen, dass Individuen als Böse zur Welt kommen ? Und wenn wir alle als wahrhaftige Kinder unserer Gesellschaft geborene Mörder wären ? Wer sich sagt, dass es ihm nur noch übrig bleibt, zur Waffe zu greifen, alles zu zerstören, zu flüchten und verfolgt zu werden, der ist in seiner eigenen Verzweiflung gefangen. Er verurteilt sich selbst, indem er versucht, einer anderen aufgezwungenen Verurteilung, eine pervertierte, unerbittliche Lebenslogik verbreitende Gesellschaft zu erdulden, zu entgehen. Doch kann man wirklich guten Gewissens behaupten, dass diejenigen, welche diese perverse Gesellschaft akzeptieren, die Guten sind ?
Natural Born Killers taucht uns wie eine Klinge, welche uns die Adern öffnet, in die Gegenwart. Kann man von einem Leben, welches abläuft, behaupten, dass es gelebt wird ? Hier bricht etwas herein, wie wenn dies uns noch mehr zerreißen wollte. Ich kann hier nichts Besseres tun, als einen Auszug aus einem Artikel von F. Varela mit dem Titel Représentation et connaissance zu zitieren :
Das Bild der Kätzchen ist ein ausgezeichnetes Gleichnis. Wir wollen uns einfach in der Folge die Frage stellen, ob wir uns durch die Erfahrungen, welche wir durchleben, unsere Weltanschauung aufbauen, welche Arten von Erfahrungen uns formen und zu wem sie uns werden lassen. Auf welche Art und Weise, die Welt, die Gesellschaft und die Erziehung zu betrachten, bereiten sie uns heutzutage vor ? Wie steht es um das Interpretenverhalten, welches diesem Jahrhundert seinen Stempel aufgedrückt hat und gleichzeitig die mit dem Akteur verbundenen Problematiken verschleiert ? Wer die Erfahrung einer Interpretenwelt gemacht hat, ist zum ausführenden Organ geworden und hat diese Art von Welt fortdauern lassen. Die ganze Geschichte des Theaters der letzten dreißig Jahre legt Zeugnis davon ab. Heute ist es unsere Aufgabe, uns davon zu befreien. Doch lehrt uns die Universität, auf dieser Welt, welche nicht mehr jene der sechziger, siebziger oder achtziger Jahre ist, zu leben, oder aber lehrt sie uns Programme für eine im Sterben liegende, bereits tote Welt ? „Die Universität lehrt die Leute, sich anzupassen, während sie doch lernen sollten, zu widerstehen”, hat mir einmal ein Professor gesagt. Er hat mir das Vertrauen wiedergegeben.
Man muss seine Zukunft anders als wie eine Rückkehr zur Vergangenheit oder eine Wiederholung der Gegenwart betrachten und seine eigene Lebensentscheidung treffen. Wie kann man heutzutage die Logiken, Situationen, Erfahrungen aufspüren, welche ganz natürlich dazu angetan sind, aus uns kleinen blindgeborenen Kätzchen für ihr Leben blinde Erwachsene zu machen ? Lernen wir, zu sehen, oder lernen wir, zu sehen, ohne zu sehen ? Wie bilden die Universität und die Gesellschaft unsere Entwicklungsfähigkeit aus ? Politisch, sozial ?
Als Antwort auf Aristoteles, welcher der Ansicht war, dass manche Menschen für die Sklaverei geboren sind, steht folgender Satz von Rousseau, welcher mir lebensnotwendig erscheint :
DIE KEHRSEITE DER LIBERALEN VERDIENSTMEDAILLE Wie es Jean-Jacques Dupeyroux in Le Monde vom 21. Dezember 1994 unterstreicht, muss man Folgendes wissen : Hinter der offiziellen „wundersamen” Arbeitslosenquote von 6 % in den Vereinigten Staaten (12 % in Frankreich) verbirgt sich die Schaffung einer sehr großen Anzahl „unsicherer Arbeitsplätze zu fünf bis sechs Dollar pro Stunde - viel weniger als unser SMIC - und ohne Sozialversicherung. (...) Ohne jeden Zweifel haben die Weltmeister eines wahrhaftigen Liberalismus recht : Indem man Mindestgehalt und Arbeitslosenversicherung abschafft, kann man Sozialkategorien, welche keine Ersparnisse besitzen aushungern - im wörtlichen Sinne - und sie somit dazu zwingen, jede x-beliebige Arbeit anzunehmen und die Arbeitslosenquote zu senken.” Wenn der Leib hungert, erhitzt sich offensichtlich der Geist. Daher „erzeugt eine solche Ausbeutung unausweichlich ein etwas gespanntes Klima... Man zündet ein Streichholz an, und ein ganzes Viertel steht in Flammen. Um diese Gegengewalt (wir unterstreichen) in Grenzen zu halten, sollen eine Million Personen in amerikanischen Gefängnissen eingesperrt sein. Das wird teuer, aber man muss sich wohl die Mittel für seine Sozialpolitik geben !” Und schließlich „zählen Gefangene nicht als Arbeitssuchende”... Die Stellen in Kursivschrift sind von JeanJacques Dupeyroux. |
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Die „zum Töten Geborenen” lassen es nicht zu, wider Natur Sklaven von Natur aus zu werden, sie verweigern ein Leben mit dem Geschmack einer Seifenoper, vor dem sie Reißaus nehmen. Wenn die Sklaven wider Natur zu Sklaven von Natur aus werden, dann ist es zu spät. In den schlimmsten Szenarios kann man voraussehen, dass man morgen für die Feigheit derer zahlen wird, die sich heute an die wenn auch „dumme” Gewalt, welcher sie unterliegen, gewöhnen, zu Komplizen eines Standes der Dinge, welcher die zukünftige Welt verseucht, und zu verlorenen Sklaven der Absurdität einer unantastbaren Gesellschaftsordnung werden. Wie das Kätzchen, welches passiv transportiert wird, nicht die Erfahrung des Stuhles und des Tisches macht und sich ihr ganzes Leben lang verhalten wird, als ob es blind wäre, während seine Augen doch sehen, wird man so in der Neutralität seines Lebens als Fremder gegenüber sich selbst und ohne jeden Lebenswillen aufwachsen. Heutzutage halten viel zu viele jede Warnung der Gegenwart für Schwarzmalerei. Sie haben nicht verstanden, dass wir nur ein Leben haben. Manchmal, wenn sich die Périphériques vous parlent in der Öffentlichkeit mit einer Kleinszene, welche die Ausgrenzungsziffern in Großbritannien aufzeigt (Ein Kind von Dreien lebt unter der Armutsschwelle) zu Gehör bringen und dabei fordern, nachzuforschen, was sich heutzutage in Frankreich entwickelt, um „jedweden Widerstand seitens der aufsteigenden Generationen zu neutralisieren”, höre ich jemand mir sagen : „Das ist gut, aber es ist zu brutal”. Darauf antworte ich gerne mit folgendem Satz von Brecht : „Wollen Sie die Barbarei besiegen, indem Sie den Engel spielen ?” Wir tragen folgenden Ruf in die Öffentlichkeit : „wie können wir uns eine andere Zukunft eröffnen, als jene, welche uns diese britische Erhebung offenbart ? ” Dies versuchen wir, durch die Theatralität zu erforschen, - ich verweise hier auf den Artikel von Yovan Gilles.
Ich frage mich ständig : wie können wir uns eine andere Zukunft vorbereiten, als jene, die dabei ist, sich ohne uns für uns vorzubereiten ? Was werden wir heute für morgen tun, oder aber, um eine glückliche Formel von früher wieder aufzugreifen : Wenn man das, was jetzt geschieht, akzeptiert, was werden wir dann wohl in zehn Jahren akzeptieren ?
Während ich Natural Born Killers betrachtete, habe ich zwei Epochen erlebt. Einerseits die Schlimmste : die Apokalypse, diesen Lebensrahmen, der die Hoffnung tötet, und andererseits den Raum dessen, was außerhalb des Rahmens liegt, dort, wo unser Schwung uns offenbaren kann, welche Entscheidungen und Lebensziele ein Rahmen einführt, während er gleichzeitig die Möglichkeit gibt, einen neuen zu schaffen und so ein anderes Reelles in den Griff zu bekommen, welches unsere Wirklichkeit noch besser darstellt. Wenn das Kino ein Hoffnungs- und Lebensschrei sein kann, dann, weil es uns lehren kann, etwas herzustellen, was außerhalb des Rahmens liegt. Es gibt Bilder, die Sinn und Möglichkeiten befreien, sie lassen das nicht Ausdrückbare geschehen. Es gibt Bilder, welche dem, was außerhalb des Rahmens liegt, erlauben, zu existieren, und manche töten es ganz einfach, wie das Fernsehbild. Ebenso gibt es Situationen, Logiken, die dem Individuum erlauben, zu werden, seinem Leben einen Sinn zu geben, den verlorenen sync wiederzufinden, und manche ersticken alles Mögliche, auf kleiner Flamme, ohne dass man es merkt, oder als ob das nur so sein könnte, oder aber, als ob man verpflichtet wäre, dem zu folgen, was sich als der natürliche Lauf der Dinge darstellt, Ausdruck unserer Jugend von Natur selbst, was uns verbirgt, wie es um unseren Werdegang und unsere Arten und Weisen, „Kultur zu machen”, steht. Natural Born Killers stellt eine dieser Situationen dar, die uns dazu auffordern, an dem zu arbeiten, was außerhalb des Rahmens liegt, einfach, weil sie uns erlauben, Gegenwart und Zukunft anders zu denken. Ich versuche, mich mit Konzepten, Worten, Ideen, Aktivitäten zu wappnen, die mir erlauben, mich von der schlimmsten Wirklichkeit nicht verblenden zu lassen, kurz gesagt, mit Verfahren, die mich dazu auffordern, die Ursachen hinter dem Anschein der Wirkungen zu analysieren, mit einer Entführung des Blickes, einer anderen Denkweise angesichts dessen, was schon da ist, mit der Einführung der lebensnotwendigen Fähigkeit, die Konstruktion zu wechseln. „Wir müssen somit daran arbeiten, gut zu denken : Dies ist das Moralprinzip” sagt Pascal. Das, was außerhalb des Rahmens liegt, ist keine Formsache, es ist eine Denkart, alles zu denken, was Ellipse, Verlassen des Blickfeldes ist, ein Schwung, der uns der „neuen abgedroschenen Dinge” entledigt und so einen neuen Lebens- und Entwicklungszusammenhang schafft, und warum nicht sogar eine neue Moral !
Fragen werden laut. Wie können wir über neue Widersprüche arbeiten und uns Konzepte schmieden, die uns erlauben, einen anderen Weltblick zu bekommen, Fragen anders stellen und so die Täuschung der schlecht gestellten Fragen vom Tisch fegen ? Ich belauere das, was außerhalb des Blickfeldes, des Lebens, meines Lebens liegt, die Bewegung, welche mich aus dieser vernormten Wirklichkeit zum Aufbau einer möglichen Welt herausbefördern wird. An der Schwelle dessen, was außerhalb des Rahmens liegt, werde ich dann überrascht den Rahmen, der mich umschlossen hielt, entdecken können und mich fragen, woher die Schwäche kam, nicht aus ihm heraustreten zu können. Dies ist meine Herausforderung oder zumindest mein Projekt.
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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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« Lorsqu'il y a interaction des individus, soit ils bougent ensemble (totalement ou en partie), soit ils n'ont pas le même rythme et interrompent alors celui des autres participants. Généralement les individus en interaction remuent ensemble dans une sorte de danse, mais ne se rendent pas compte de la synchronie de leurs mouvements et les exécutent sans musique et orchestration consciente. »
« Chacun sait que les chatons, à la naissance, sont aveugles. Deux chatons d'une même portée sont placés dans deux paniers séparés, eux-mêmes liés à un petit chariot que l'on déplace à certaines heures de la journée. Les deux chatons sont côte à côte : ils ont donc par définition la même expérience visuelle, aux mêmes heures du jour. Mais le chaton n° 1 est transporté passivement, il ne peut sortir du panier pour marcher, tandis que le chaton n° 2 peut se déplacer activement, lorsqu'on lui fait faire une petite promenade. L'un est transporté passivement, l'autre garde ses eigenen activités motrices. Au bout d'un mois, on les laisse aller librement. On constate alors que die chaton n° 2 se comporte comme un chaton normal, alors que le chaton n° 1 se comporte comme s'il était aveugle : il ne voit pas les chaises, tombe de la table, etc. Néanmoins, son système visuel est intact. On en conclut que l'on ne peut séparer la vision de l'action. L'activité motrice est aussi constitutive des distanciations visuelles que ce que la rétine permet de faire. Il n'y a pas du tout une image "externe” que l'on traite. Il y a une histoire d'activités, qui est assez cohérente. Dans cet exemple, c'est une activité sensori-motrice qui va donc constituer la solidité physique du monde, les chaises, les tables, etc. Certes, ce monde physique et visuel avec ses couleurs et ses formes, préexiste aux chatons, mais ces derniers - et c'est ce qui est intéressant - doivent constituer ce monde visuel. »
« Aristote avait raison ; mais il prenait l'effet pour la cause. Tout homme né dans l'esclavage naît pour l'esclavage, rien n'est plus certain. Les esclaves perdent tout dans leurs fers, jusqu'au désir d'en sortir ; ils aiment leur servitude comme les compagnons d'Ulysse aimaient leur abrutissement. S'il y a donc des esclaves par nature, c'est parce qu'il y a eu des esclaves contre nature. La force a fait les premiers esclaves, leur lâcheté les a perpétués. »