Les périphériques vous parlent N° 2
HERBST 1994
S. 53-55
deutsch
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 Erste Antworten 

Sébastien BondieuKathrin Ruchay Photo Florent Maillot

Fähig werden zu..

In der ersten Maiwoche war Generation Chaos 2 an der Freien Universität Brüssel. Als Philosophieprofessorin hatte ich mich als „Kontaktperson” improvisiert ; d.h. mein Name erschien auf dem Antrag auf materielle Unterstützung durch die Akademischen Autoritäten, und ich hatte, um dieses Unternehmen den nichtsahnenden Forschern und Studenten vorzustellen, folgenden Text verfasst :

„Wenn man wie ich über die Vierzig ist, nach etlichen Schwierigkeiten einen festen Beruf, ein Haus usw. hat, dann neigt man dazu, sich zu fragen : Wo sind denn die Jugendlichen, die hier eindringen, uns anstoßen, uns unerwartete Perspektiven und Forderungen aufdrängen, uns gleichzeitig alt und jung werden lassen, kurz, uns in den Arsch treten ? Vor Allem, wenn man an der Universität arbeitet, wenn man ein Wissen, eine Erfahrung übermitteln soll, welche die, an die man sich richtet, dazu befähigen, in dieser chaotischen Welt mehr zu tun, als nur zu überleben, während man uns einerseits sagt, dass nichts mehr so wie früher sein wird, und man andererseits vor Allem von Anpassung, Unterwerfung unter die Zwänge des Marktes und Resignation spricht, um immer brauchbarer, formbarer, einsatzbereiter zu werden.

Photo Florent Maillot

Und plötzlich tauchen Generation Chaos und Les périphériques vous parlent mit der Devise auf : „Denn das Fundament jeden Wissens ist, dass die Freude, mit der man es ausübt, die gleiche ist wie die, mit der man es erwirbt”. Es sind Akteure, aktive Studenten, die uns fragen : „Was machen Sie ?”, „Welches Verhältnis zum Wissen bringen Sie uns bei, eines, das uns erlaubt, das Chaos zu leben, oder nur, in ihm an den Traum einer verlorenen Stabilität geklammert zu überleben ?”. Sie sagen uns : „Wir lernen, Akteure zu werden, und es ist sehr schwierig, aufzuhören, nur Interpreten von Gemeinplätzen und Parolen zu sein, von denen man glaubte, dass es unsere eigenen wären. Aber Sie, die Professoren, interpretieren oder leben Sie das, was Sie uns beibringen sollen ?”
Unerwartetes, beunruhigendes Eindringen, das verjüngt und alt werden lässt. Nicht mehr diese väterlich-mütterliche Befriedigung gegenüber den Jugendlichen, die endlich unseren Spuren folgen. Hier schmiedet man das Eisen. Sie fragen uns, was wir in unserer Routine wirklich tun. Welche Illusionen, Unfähigkeiten, Unterordnungen übermitteln wir mit unserem besten Willen ?
Ist die Universität eine Arbeitslosenfabrik ? Ist sie eine Hohe Schule für eine „wirklich professionelle” Elite ? Arbeitslose oder Eliten, in beiden Fällen handelt es sich um im Voraus geschriebene Rollen, die zu interpretieren sind. Fähig dazu werden, Akteure zu sein ? Das ist eine wirkliche Arbeit, die tatsächlich Studenten, Professoren und Forscher auf eine Stufe stellt : Die Perplexität. Wie kann man aufwachen ?
Génération Chaos hat ein Spektakel erfunden, das keines ist : Es wurde nicht ausgedacht und anschließend auswendig gelernt und geübt, sondern so geschaffen, dass die Freude, die man empfindet, wenn man lernt, seine Rolle zu spielen, dieselbe ist, wie wenn man das Gelernte in die Tat umsetzt. Es wurde als „Katalysator” erfunden, um die Rolle des passiven, zynischen, verzweifelten Konsumzuschauers, „dem man nichts mehr vormacht”, zu brechen. Ein „Spektakel”, das wach rütteln und Bewegungen ankurbeln soll und seine Fortsetzung in einer wirklichen „politischen” Arbeit finden muss, in dem Sinne, dass die Politik zunächst die Erfindung der Art und Weise ist, zusammenzuleben. Wie kann man in der Universität zusammen leben, wenn einige der „Chaos-Generation” angehören, und die Anderen zu wissen glauben und wissen, was sie haben ?
Aufwachen bedeutet zunächst, die wenn auch schwache, zerbrechliche Möglichkeit zu ergreifen, aufzuwachen. Das Chaos ist nicht die Krise, denn sie schafft die Herausforderung, nicht mehr zu glauben dass „sich das schon einrenken” wird, dass man Vertrauen haben muss. Wie kann man das Vertrauen aufgeben ohne zu verzweifeln ? Das werden wir beginnen, lernen zu können. Dienstag, 3. und Mittwoch, 4. Mai.”

Was ich nicht wusste, als ich diesen Text schrieb, war, dass Mitte April plötzlich Bewegung unter die Studenten kam. Zur Überraschung aller und zur Freude von vielen. „Braucht man alle 25 Jahre eine Revolution ?”, frug eines ihrer Flugblätter. Aber mit Humor, denn das waren nicht mehr die politisierten Studenten von 68 : Die Bewegung ging von den Studentenvertretern im Verwaltungsrat (eine „Errungenschaft” von 68) aus, denen die Unfähigkeit dieses Rates, seine Funktion zu erfüllen, als Skandal erschien. Der Auslöser war ein Plan von Sparmaßnahmen gewesen, und jeder war sich darüber im Klaren, dass die Diskussion über diesen Plan nur eine Formsache war, wie gewöhnlich würde man sich dann schon fügen.


Thomas Belhom Photo Florent Maillot

Am Ende dieser ersten Maiwoche wurde der Plan zurückgezogen. Die Studenten haben gewonnen, aber es fällt noch schwer, zu sagen, was sie eigentlich gewonnen haben. Ich konnte aber bei dieser Gelegenheit den Kontrast zwischen dieser explosiven, erfinderischen, aber durch Natur und Beschluss auf ein bestimmtes Ziel beschränkten Bewegung messen und der Arbeit der Teilnehmer des Laboratoire de Changement. Wenn eine Bewegung beginnt, zeigt das sicher die Vielfältigkeit des Milieus, wo dies geschieht, auf und verstärkt sie. Hier gab es natürlich die Uninteressierten, die während des Universitätsstreiks zu Hause blieben und büffelten (die Examen standen vor der Tür). Andere hatten sich in Bewegung gesetzt und erlebten täglich das Auf und Ab der Kraftprobe mit den Autoritäten. Und dann war da noch die kleine Minderheit derer, die hofften, nicht zu hoffen wagten, sich zu hoffen weigerten, dass andere Probleme auf den Tisch kämen, dass man vom Widerstand zur Erfindung übergehen könnte. Und diese allein sind gekommen und wiedergekommen, haben sich an den Diskussionen beteiligt, haben andere geholt, ehemalige Studenten, Arbeitslose, Studenten anderer Institutionen usw., kurz gesagt, haben eine andere Vielfalt in einer ganz anderen Situation geschaffen : Kein „natürliches” Mobilisationsziel, nicht einmal, und vor allem nicht jenes, das die Ausweitung des Kampfes an der Universität hätte darstellen können, der aber alles in allem nicht sehr wichtig war für die, die versuchten, indem sie sich versammelten, anzufangen, „Akteure zu werden”.

Die Bedeutung des Experimentes kam zum Vorschein, als wir uns „allein” wiederfanden, d.h. nach der Abfahrt der „Franzosen”. Wir waren „wie zuvor”, und doch war uns etwas übermittelt worden, von dem wir wussten, dass seine erste Herausforderung war, es nicht zu verlieren, dass es einen Unterschied machte. Aber welchen Unterschied ? Wie könnten wir in die Gegenwart umsetzen, was wir vermittelt bekommen hatten ? Sicher, die Arbeit mit dem Laboratorium geht weiter, mehr als zehn von uns machen sich auf den Weg zu einem Lehrgang in Ville Evrard. Doch damit dieser Lehrgang etwas nähren kann, muss es etwas geben, was man nähren kann. Was kann das sein ?

Jeder kann in diesem Anfangsstadium nur auf seine Art bezeugen, was geschehen ist. Die Berichte, in denen man auch für die Anderen sprechen kann, können erst später entstehen, wenn das, „was man erzählen kann”, Tatsache geworden ist. Ich spreche daher nur für mich selbst, wenn ich sage, dass die besondere Qualität dieses beginnenden Experimentes die „Geduld” war in dem Sinne, dass Geduld im Gegensatz zu Furcht und Dringlichkeit steht : Als ob uns irgendetwas „enthielte”, uns erlaubte, das Schweigen, die Unentschlossenheit und das Wissen zu dulden, dass wir „für nichts” versammelt waren, ohne Aufruf, ohne Programm, und dass es normal gewesen wäre, auseinander zu gehen und die „normale” Routine des Lebens wiederaufzunehmen. Die Frage war nicht : „Was wollen uns diese Franzosen ?”. Jedem war das auf seine Art klar. Was sie uns wollten war im Übrigen genau das, was uns zusammen „enthielt”, außerhalb des Gleichgewichtes unserer Gewohnheiten, unserer ängstlichen Ungeduld, unserer Enttäuschung. Man könnte es so sagen : Sie sind nicht gekommen, „eine Vorstellung zu geben” ; sie haben uns großzügig ohne zu zählen Zeit, Aufmerksamkeit, Geduld geschenkt. Wie wenn dies wichtig wäre, wie wenn wir wichtig wären. Ein Geschenk verpflichtet. Aber die Pflicht war hier nichts Anderes, als zuzugeben, dass das wichtig ist, und das ist keine einfache Angelegenheit. Was uns zusammenhielt, war demnach nichts anderes als die Verpflichtung, der hervorsehbaren Norm, die sagte, dass wir uns nun trennen müssten, Widerstand zu leisten.

Mich interessiert diese Frage der „Zeit”. Wenn man auseinander geht, dann ist das immer, weil man den Eindruck hat, „Zeit zu verlieren”. „Keine Zeit zu verlieren” ; „Womit vergeuden wir noch unsere Zeit !”, sind um so kräftigere Aufrufe, als sie aus der Forderung nach Freiheit hervorzugehen scheinen. Sicher hört man sie im Allgemeinen nicht in Kneipendiskussionen, in „Freizeitbeschäftigungen” und in den verschiedenen Methoden, „die Zeit totzuschlagen”. Man hört sie vielmehr dann, wenn es darum geht, zu versuchen, „Soziales zu schaffen”, neue Arten und Weisen zu erfinden, zusammen zu sein. Wahrscheinlich langweilt man sich deshalb so sehr in politischen Militantenversammlungen : Da muss man mit allerlei Dringlichkeiten „beweisen”, dass man seine Zeit nicht verliert : Z.B. eine eng beschriebene Tagesordnung aufstellen, damit jeder den sichernden Eindruck erhalten kann, dass „man wirklich viel Arbeit hat”. Dies bildet einen Kontrast, der zu denken gibt mit dem, was wir von den „traditionellen” Gesellschaftsformen kennen, wo sich z.B. ganze Dörfer während mehrerer Tage für eine Zeremonie mobilisieren können, um das Band zwischen der Gemeinschaft und einem leidenden Mitglied wieder anzuknüpfen. Wie wenn das wichtig ist. Wie wenn das alles Andere als verlorene Zeit ist. Aber im Grunde genommen ist das gar nicht so exotisch, auf jeden Fall nicht exotischer als die Forderung, die man in L'Unité des différences findet : Dass die „Entwicklung des Unternehmens” und derer, die ihm Leben geben, einen Teil der Zeit erfüllt, die man in den „Produktionsstätten” verbringt. Eher sollten wir uns selbst als exotisch und schwer verständlich (und doch völlig erklärbar) ansehen, wenn wir es normal und wünschenswert finden, den Arbeitsplatz so schnell wie möglich zu verlassen oder die Aufgabe, sich um die zu kümmern, die es brauchen, „Spezialisten” überlassen, deren Zeit wir kaufen. Und das hat natürlich sehr viel mit der These zu tun, nach der „diejenigen jung sind, die den Kampf für eine Gegenwart aufnehmen, die eine Zukunft hat”. Das zeigen uns sehr gut diejenigen, die „jung” sind, ohne dafür kämpfen zu müssen, die Kinder : Ihre Spiele sind lebensnotwendig, die Kollektive, die sie schaffen, sind voller Dramen, Hoffnungen, Freuden, Verzweiflungen und Gewalt, die ein Erwachsener sich nicht vorstellen kann.

Ich stellte oben die Frage : „Was kann man tun, um wach zu werden ?”, eine Frage, die heutzutage überall wiederhallt. Génération Chaos verpflichtet uns, eine Bedingung sine qua non für diesen Prozess anzuerkennen : Gegen den Zwang zu kämpfen, den jeder von uns verinnerlicht hat : Nicht seine Zeit verlieren zu dürfen. Was den Rest betrifft : In Brüssel geht das Experiment weiter, doch ist es zu früh, Worte zu finden, mit denen man im Namen mehrerer sprechen kann.

Isabelle Stengers
Université Libre de Bruxelles


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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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