HERBST 1994 S. 56 |
Fähig werden zu... | |
Erste Antworten |
Photo Florent Maillot |
Die Schriftstellerin Catherine CLAUDE antwortet hier auf unseren Text :
„Und wenn die Kunst denjenigen, an den sie sich wendet, zum Schöpfer machen wollte ?”
Wenn es eine Ausbildung gibt, die ein Interaktionsspiel zwischen Ausbilder und Schüler voraussetzt, dann ist es im Bereich der Kunst und der Literatur („der künstlerische Ausdruck” des Buches). Im Bereich der Wissenschaften muss der Professor sein erworbenes und nachgeprüftes Wissen in den Disziplinen seiner Kompetenz weitergeben. Im Bereich der Kunst und der Literatur verliert der Begriff von Wissen und vor Allem von Wahrheit seine Bedeutung. Kein Kunstwerk hat je vorgegeben, eine Wahrheit (oder mehrere) auszudrücken. Kein Werk hat eine Bedeutung, die man auf Botschaften zurückführen kann, die der Autor hätte übermitteln wollen. Der Autor will nichts Anderes sagen als das, was er (in literarischer, musikalischer, filmischer oder bildlicher „Schrift”) schreibt, und was sich in einem schillernden Kaleidoskop tausendfacher Nebenbedeutungen vervielfältigt, über die der Autor selbst jede Macht verliert, die aber zwischeneinander nochmals einer Unzahl von Lesarten Platz lassen. Das Leben eines Werkes beginnt im Spiel seiner Begegnungen mit dem, was man oberflächlich das „Publikum” nennen könnte. Dieses entdeckt den vielfältigen Sinn, den der Autor nicht kannte. So erklärt sich die Langlebigkeit mancher Werke. Wir wollen als Beispiel nur Sophokles' Werk anführen : In der Hellenischen Aktualität des V. Jahrhunderts (a.C.) verwurzelt, entschleiert es 2500 Jahre später seine Aktualität neuen Generationen von Lesern und Zuschauern.
Wenn ein Professor seine Interpretation als Wahrheit zum Besten gibt, interpretiert er, was man nicht interpretieren kann. Jede Lesart hat ihren „eigenen” Wert, die des Studenten ebenso wie die des Professors, und letzterer hat höchstens die Aufgabe, das Werk in seinem Zusammenhang zu erläutern, um es leichter verständlich zu machen. Man kann sogar beobachten, dass Kinder, die noch nicht allzusehr vom Bildungswesen verformt sind, häufig „Entdeckungen” aufstöbern, die dem Auge des Lehrers verborgen bleiben - und die den Autor staunen machen (wenn sie ihm bekannt werden)...
Ich stehe mit diesem Urteil nicht allein. Der Schriftstellerverband hat im Bereich der Literatur (der sein Spezialgebiet ist) im Jahre 1982 eine Analyse erstellt, aus der im Besonderen hervorgeht, dass das Literaturfach, so wie es von der Grundschule bis hin zur Universität gelehrt wird, häufig nichts Anderes als ein Ideenmord ist, der den Schülern für immer die Lust vergehen lässt... Ein Modell-Lehrprogramm, das aus diesem Teil der Analyse heraus entwickelt wurde, empfiehlt „Schreib-Workshops”, in denen man die Kreativität der Teilnehmer durch befreite Unterrichtsmethoden fördert - zur höchsten Zufriedenheit der Lehrer. In der Tat kann man die Aufgabe der Unterrichtenden, die Übermittlung von Kenntnissen, durch eine andersartige, persönliche Annäherung bereichern, ohne sie zu behindern. Die schöpferische Funktion der Kunst erhält so ihre volle Bedeutung : In einer Gesellschaft, die dies O wie dringend braucht, Kreativität zu entfalten.
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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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