WINTER 1995/1996 S. 2 |
An unsere Leser |
Anlässlich des Streiks, welcher Frankreich seit drei Wochen lähmt, hat sich Vielen die Frage gestellt : „Wie sieht unsere Zukunft heute aus ?”. Wenn die in dieser Nummer veröffentlichten Texte auch vor diesen Sozialbewegungen verfasst wurden, so meinen wir doch, dass sie die Problematiken, welche sich im Laufe dieses Streiks gezeigt haben, direkt betreffen. Wir möchten mit diesem Brief aufzeigen, warum sich diese Nummer mit dieser Bewegung völlig im Einklang befindet und wie sie in der Folge dazu beitragen kann, eine Aktion für eine andere Zukunft als jene, welche für uns vorprogrammiert zu sein scheint, zu unterstützen.
Wir wollen zunächst den unterschwelligen Grund für diesen Streik aufzeigen, auch wenn dieser sich nicht sehr in den Forderungen und Aktionen ausgedrückt hat, eine Sorge, welche das Gesellschaftsgewissen jedoch heute ständig bedrückt : die allmähliche Entqualifizierung ganzer Bevölkerungsschichten. Diese Entqualifizierung (die Verunsicherung) erzeugt allmählich eine „Unter-Klasse” („under-class”, wie man sie bereits in den USA bezeichnet). Während die Entqualifizierung eine unausweichliche Folge der ständigen Industrieumstrukturierungen ist, so zeigt der Artikel mit dem Titel „Der disqualifizierte Mensch” wohl auf, dass sich heute die seit beinahe einem Jahrhundert mit dem Taylorismus existierenden Qualifikationskriterien als überholt erweisen.
Wir möchten sofort sagen, dass uns der Versuch, Männer und Frauen im aktuellen Produktionsbereich umzuqualifizieren, nicht als eine angemessene Lösung erscheint. Vor Allem scheint uns der Liberalismus verantwortlich zu sein.
Der Leser wird feststellen, dass sich manche Artikel in dieser Nummer still schweigend darüber einig sind, dazu aufzurufen, den Ultra-Liberalismus, seine Argumentationen und seine Logik, welche die Produktiv- und Sozialkräfte den Forderungen des „Ökonomischen” unterordnen wollen, zurückzuweisen. Denn von Anfang an stellt sich der Liberalismus als „natürlicher” Ausdruck des Ökonomischen dar und behauptet im gleichen Atemzug, dass er „politisch” der einzig mögliche Weg für die menschliche Entwicklung ist. Damit drückt er eine totalitäre Ideologie aus, und wenn wir „Widerstand und Existenz !” rufen, dann rufen wir dazu auf, diesen Totalitarismus zu bekämpfen. Dieser Anspruch des Liberalismus, zunächst zu behaupten, dass der Markt Schlüssel der Wirtschaft und die Wirtschaft Ausdruck des menschlichen Schicksals ist, und weiterhin, dass der Markt die von den Gesetzen des Liberalismus natürlich ausgedrückte Wirtschaft selbst ist, ist eine Lüge. Sie ist unannehmbar und zu bekämpfen.
Doch um diese sogenannten „Naturgesetze der Wirtschaft” zu bekämpfen, handelt es sich nicht so sehr darum, eine Kritik der Auswirkungen des Liberalismus, sei sie auch noch so hart, vorzunehmen, als vielmehr darum, einen anderen Blick auf Leben, Markt, Wirtschaft, Arbeit, Produktion, Ausbildung, Forschung, Kultur, Kunst, Philosophie usw. vorzuschlagen. Wenn es, wie behauptet wird, zum Liberalismus keine andere Alternative als den Liberalismus gibt, dann wird sich sehr wohl der „harte” Ultra-Liberalismus durchsetzen, und kein weicher Sozialliberalismus nach französischer Art, und dies, was man auch unternähme. Für uns bedeutet Ultra-Liberalismus, dass die Unmenschlichkeit das Ruder in der Hand hat, dass Härte an der Tagesordnung ist, die Härte des Gesetzes der Gewalt, und nicht die Härte der Naturgewalt des Ursprunges der Menschheit, sondern die apokalyptische, hauptsächlich städtische Gewalt des „Bankrottes einer erledigten Welt”.
Zunächst wollen wir den Argumenten des Ultra-Liberalismus die Unsrigen entgegenstellen. Wir wollen u.A. kurz zwei Punkte, Markt und Lohnarbeit, als Beispiel ansprechen. Der Markt ist kein Selbstzweck, welchen Natur- (und somit undiskutierbare) Gesetze im Voraus vorschreiben. Bevor der Markt existierte, gab es den Kommerz, eine Aktivität, in welcher wirkliche Männer und Frauen eine Austauschbeziehung eingehen. Die Qualität des Austausches selbst, die eingesetzten Verfahren und Mittel machen den Markt, und im Rahmen eines Kommerzes unter den Menschen entsteht der Austausch, nimmt der Markt Form an oder formt er sich um. Ebenso wenig wie der Markt ist die Lohnarbeit ein Selbstzweck, es ist ein Mittel, welches sich der Mensch im Laufe seiner langen Geschichte gegeben hat, um das Sozialleben aufzubauen. Die Tatsache, dass Markt und Lohnarbeit in der zweiten Industrieperiode zu Selbstzwecken geworden sind, bezeichnet nur eine Charakteristik dieser Epoche.
Wirtschaft im weitesten Sinne bezeichnet genau ökonomische Systeme, welche die Art von Austausch, auf welchen die Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt ihrer Geschichte zurückgreifen, wertschätzen. Bei den Wirtschaftsgesetzen handelt es sich einfach um Gesetze, welche zu diesem Zeitpunkt gelten. Wir sollten somit eher damit beginnen, uns die Frage, welche die heutige Wirtschaft betrifft, zu stellen : Wozu dient ein ökonomisches System, welches nur jene bereichert, die schon reich sind, und alle anderen verarmt ? Praktisch zu nichts. Wenn der Liberalismus auch den Wachstum, einen gewisse Art von Wachstum beinahe ein Jahrhundert lang sichergestellt hat, so hat er heute doch die Schwelle seiner Inkompetenz erreicht. Dies ist die Krise.
Somit müssen wir das Gesetz des Stärkeren, welches der Ultra-Liberalismus durch seinen von einer „vereinheitlichten (totalitären) Denkweise”, unterstützten verallgemeinernden Blick auf die Wirtschaft auf der ganzen Erde durchsetzen will, zurückweisen. Dieser beruht auf „der Wettbewerbsfähigkeit” in ihrem engsten Sinne, d.h. auf einem System, welches auf der Vernichtung des Anderen beruht und wo nur die Stärksten, Schlausten, Bestplazierten und Privilegierten überleben können.
Wir wollen versuchen, zu sehen, wie man aus dem Rahmen des Liberalismus herauskommen kann, statt die unmenschliche Therapiewut vorzunehmen, welche der Soft-Liberalismus nach französischer Art jetzt einführen will, um sich von der zu offensichtlichen Brutalität der harten ultraliberalen Systeme in der Art von Reagan oder Thatcher zu unterscheiden. Die meisten Texte dieser Nummer befinden sich auf dieser Linie, um die Bürger zu einem konkreten Ausbruch aus einem heute für die große Mehrheit der Bevölkerung unerträglich gewordenen Lebensrahmen aufzufordern.
Wir rufen mit diesen Texten dazu auf, „unsere Vielfalt zu vereinigen”, indem wir zunächst vorschlagen, folgende Position zu unterstützen : Es ist unsere Aufgabe, Lösungen zu suchen und in die Tat umzusetzen, indem wir uns zunächst folgende Frage stellen : Welches ist unsere Zukunft ? Selbstverständlich ist die Zukunft das, was geschehen wird, gewissermaßen das Futur. Wenn wir jedoch auf diese Zukunft Einfluss nehmen wollen, wenn wir somit unter dem Gewicht der Epoche Zukunftsperspektiven „entdecken” wollen, werden wir ihnen alle zusammen Bestand geben müssen, wäre es auch nur durch folgende Frage : Wie können wir uns in der Gegenwart eine Entwicklung geben ?
Um auf diese Frage eine Antwort zu geben, haben wir Generalstände für die Zukunft vorgeschlagen*. Die Ereignisse vom November und Dezember 95 scheinen uns gute Perspektiven, um uns auf diesen Weg zu begeben, mit sich zu bringen. Wir rufen somit alle dazu auf, dieser Bewegung eine „Entwicklung” sicherzustellen.
Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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